Georg Konrad Rieger, den man den bedeutendsten Prediger Württembergs im Zeitalter des Pietismus genannt hat, wurde am 7. März 1687 in Cannstatt als Sohn eines Weingärtners geboren ( Einen kurzen Lebenslauf hat Rieger auf seinem Krankenbett diktiert. Er beschließt ihn mit folgenden Worten: „Mein ganzer Lebenslauf steht in jenem Sprüchlein: Ich bin ein armer Sünder! Und die letzte Nachricht von mir soll diese sein: Jesus Christus hat ihn selig gemacht!“). Von früher Kindheit an lebte in ihm der Wunsch, Pfarrer werden zu dürfen. Der Vater war mit der Berufswahl seines Sohnes nicht einverstanden; es dauerte lange, bis er seinen Widerstand aufgab und die Erlaubnis zum Studium der Theologie erteilte. Der junge Rieger konnte nach der Überwindung aller Schwierigkeiten von 1702 -1706 die theologischen Seminare in Blaubeuren, Maulbronn und Babenhausen besuchen. Im Jahr 1706 wurde er in das Theologische Stift in Tübingen aufgenommen. Damals lehrten dort die Professoren der Theologie Andreas Adam Hochstetter, Christoph Reuchlin und der Kanzler J. W. Jäger. Am meisten fühlte sich er zu Hochstetter hingezogen, den A. H. Francke „unter seine liebsten Freunde “ zählte. Rieger, der inzwischen die Magisterprüfung abgelegt hatte,bestand im Jahr 1710 das theologische Examen vor dem Konsitorium in Stuttgart. Nach der Prüfung war er einige Jahre als Hauslehrer in der Familie des Tübinger Professors Harpprecht tätig, bis er 1713 als Repentent nach Tübingen und zwei Jahre später als Stadtvikar nach Stuttgart berufen wurde.
Im Spätherbst des Jahres 1717 kam A. H. Franke auf seiner „Reise ins Reich“ auch nach Stuttgart. Rieger legt bei einer Begegnung dem berühmten Theologen die Frage vor: „Wie predige ich am erbaulichsten?“ Francke erwiderte ihm: „Ich muß allem so predigen, daß, wenn mich einer nur dieses einzige Mal hört und darüber hinstürbe, er nicht nur etwas, sondern den ganzen Weg zur Seligkeit in der rechten Ordnung, wie es im Herzen aufeinander geht, auf einmal gehört hat. “
Die Kirchenbehörde, die auf den begabten jungen Theologen aufmerksam geworden war, wollte ihm die Stelle des Klosterpräzeptors in Babenhausen übertragen und ihm den Weg in die wissenschaftliche Laufbahn öffnen. Rieger dagegen fühlte sich zum Predigtamt hingezogen und bat die Behörde, daß sie ihn von der Übernahme des Amtes befreien möchte. Kurz darauf wurde ihm die zweite Stelle in Urach übertragen. (Im Jahre 1718 trat er in den Ehestand mit Regina Dorothea Scheinemann aus Stuttgart. Von den beiden Söhnen, die dieser Ehe entstammen, ist der ältere der bekannte Oberst Philipp Friedrich Rieger, der als Staatsgefangener lange Jahre hindurch in unwürdiger Haft auf der Festung Hohenwiel gefangen saß. Er starb, nachdem ihn der Herzog begnadigt hatte, 1782 als Kommandant der Festung Hohenasberg. Der jüngere Sohn, Carl Heinrich Rieger, ist der bekannte Schriftausleger, dessen „Betrachtung über das neue Testament“ im 19. Jahrhundert zahlreiche Auflagen erlebte). Hier entfaltete er als Prediger und Seelsorger bald eine gesegnete Tätigkeit. In seinem Hause richtete er eine Erbauungsstunde ein, in der er Speners Schrift : „Einfältige Erklärung der christlichen Lehre und Ordnung der kleinen Katechismus Luthers“ seinen Andachten zugrundelegte. Nach kaum drei Jahren mußte er die Uracher Gemeinde verlassen; denn seine Behörde hatte ihn in eine neue Arbeit als Professor am Gymnasium und als Mittwochsprediger an der Stiftskirche nach Stuttgart berufen, wo er über zwei Jahrzehnte wirken durfte. Im Auftrag des Konsitoriums legte er in seinen Wochenpredigten das Evangelium des Matthäus aus. Er hat in seinem Leben etwa tausend Predigten über das Evangelium gehalten, wiewohl er mit seiner Auslegung nur bis zum 19. Kapitel gekommen ist. „ Der Herr“, so bekannte er gelegentlich, „hat mir manche Erquickung unter dem Nachsinnen und viel Trost und Aufmunterung beim Halten dieser Predigten geschenkt“. Über manchen kleinen Textabschnitt hat er acht Predigten gehalten. Einen Teil seiner Predigten über das Matthäus-Evangelium hat er im Lauf der Jahre im Druck erscheinen lassen. Es handelt sich dabei um die Predigtsammlungen: „Die Kraft der Gottseligkeit im Verleugnung seiner selbst“ und die „Betrachtung von der herzlichen Sorgfalt des himmlischen Vaters und seines Sohnes auch nur um eine einzige Seele“. Nach seinem Tode erschienen die Predigtbänder „Richtiger und leichter Weg zum Himmel“ und „Die Geschichte von der Verklärung Jesu Christi“, denen Texte aus dem Matthäusevangelium zugrunde liegen.
In jenen Jahren stand er als Seelsorger in besonders herzlicher Verbindung mit Beata Sturm, deren pietistisch-mystische Frömmigkeit ihn stark beeinflußte. Ihre Lebensgeschichte hat er ausführlich beschrieben in dem Buch: „Die württembergische Tabea oder das merkwürdige äußere und innere Leben der weiland gottseligen Jungfrau Beata Sturmin“ (1730). Das Buch hat damals 1732 und 1737 Neuauflagen erlebt. Im 19. Jahrhundert hat es Carl Friedrich Ledderhose nach gründlicher Überarbeitung nach einmal herausgegeben.
Das Jahr 1733 brachte ihm einen erneuten Stellenwechsel; denn er wurde zum Stadtpfarrer an der Leonhardskirche ernannt. In welchem Sinn er sein Amt zu führen gedachte, das zeigen die folgenden Worte in seiner Antrittspredigt: „Weil ich aber nicht das Meine, sondern das, was Jesu Christi ist, bei euch suche, nicht eure ohnehin fast abgeschorene Wolle, nicht eure fast ausgemolkene Milch, sondern eure übriggebliebenen Seelen, eure köstlichen und unschätzbaren Seelen, darum traue und glaube ich, daß ich sie finden, daß ich wenigstens manchen finden, werde; und wieviel habe ich gefunden, wenn ich eine Seele gefunden habe!“ Diese Worte zeigen auch, daß Rieger nicht an den politischen Ereignissen seiner Zeit gleichgültig vorübergegangen ist. Die Ausdrücke „fast abgeschorene Wolle“ und „fast ausgemolkene Milch“ beziehen sich auf die Mißwirtschaft des Herzogs Eberhard Ludwig und seiner Mätresse, der Landhofmeisterin von Grävenitz. Das Land konnte damals aufatmen; denn 1733 war Herzog Ludwig gestorben. Wie sehr Rieger für politische, vor allem auch für staatspolitische Fragen aufgeschlossen war, zeigt seine Schrift: „Moralisch-theologische Belehrung von dem eigentlichen Ursprung des bürgerlichen Regiments“ (1733). Am Sonntag vor der Hinrichtung des ehemaligen Finanzministers Süß Oppenheimer, die am 4. Februar 1738 in Stuttgart stattfand, hielt er seine berühmte Predigt über Matthäus 20, 8. In ihr warnte er die Gemeinde vor Haßgefühlen und ermahnte sie zur Buße und Besinnung. In seinem Schlußgebet gedachte er des Verurteilten, den er wiederholt im Gefängnis besucht hatte, und forderte die Zuhörer auf, daheim mit der Fürbitte fortzufahren: „Solche Liebe sind wir einem Juden um eines Juden willen, um Jesu Christi, unseres hochgelobten Heilandes willen, schuldig“. Die Predigt erschien als Sonderdruck unter dem Titel: „Gute Arbeit gibt herrlichen Lohn“.
Neun Jahre später berief ihn das Konsistorium zum Pfarrer der Hospitalkirche und übertrug ihm das Dekanatamt. Im gleichen Jahr erschien sein umfangreiches Predigtwerk: „Herzenspostille oder zur Fortpflanzung des wahren Christentums im Glauben und Leben über alle Fest-, Sonn- und Feiertags-Evangelien gerichtete Predigten“. Merkwürdigerweise wurde das Buch außerhalb des Landes im Verlag Züllichauer Waisenhauses gedruckt. Einen Neudruck des Buches, das Riegers Ruhm als Prediger begründete, veranlaßte 1843 Pfarrer Johann Hinrich Volkening, der Erweckungsprediger des Ravensburger Landes.
Nur noch kurze Zeit konnte Rieger sein Amt versehen. Am 22. März 1743 erlitt er einen Zusammenbruch seiner Kräfte, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Er selber fühlte, daß der Herr ihn heimholen wollte. Geduldig ergab er sich in Gottes Willen und legte in seiner Lebenszeit ergreifende Zeugnisse des Glaubens ab. Am Dienstag vor Ostern empfing er auf seinem Krankenlager das Heilige Abendmahl. Nach der Feier sprach er bewegten Herzens: „Nun, was soll ich mehr verlangen? Mich umströmt die Gnadenflut!“ Als er am Tag darauf sehr um Luft ringen mußte, sagte er zu einigen Freunden: „Nun, ich sterbe, und Gott wird mit euch sein. Ich besiegle da Evangelium, das ich gepredigt habe, mit meinem Tod; und es reut mich kein Wort“. Ein wenig später bat er um ihre Fürbitte: „Unterstützt mich vollends mit eurer Liebe und Kraft, bis es gar überwunden ist. Ich bin wie eine ausgetrocknete Scherbe. Ich weiß nicht, wie lange es noch währt; bleibt bei mir abwechslungsweise und seid Zeugen meines Glaubens bis an mein Ende!“ Dann wieder bat er, daß man singen möchte zum Lob der Engel, die ihn abholen werden: „Es sind zwei Heere wie bei Jakob. Ihr seid das eine; überliefert mich mit Beten und Singen an das andre Heer, nämlich an die heiligen Engel!“
Am Osterfest sprach er zu seiner Frau: „Liebes Kind, ich sterbe und hätte noch viel zu reden, aber halte dich an Christus allein und behalte ihn!“ Am Abend bekannt er bei zunehmender Schwäche: „Es ist immer das Alte. Ich bin eben der arme Sünder, der Gnade bekommen hat, der arme Sünder, der errettet worden ist, arme Sünder, den er selig gemacht hat; und wenn man`s tausendmal umkehrt, so ist es immer das Alte. Mir ist nichts groß und nichts ansehnlich als Jesus allein!“ Als ihm in der letzten Leidenszeit das Atmen außerordentlich schwer wurde, meinte er: „Das gehört zu dem ängstlichen Herren der Kreatur.“ Einer der Anwesenden ergänzte ihn mit den Worten: „Welche wartet auf die Freiheit der Kinder Gottes.“ Rieger erwiderte: „Auf die herrliche Freiheit“ Dieses Wörtlein wollen wie nicht vergessen!„ Zu einem anderen, der ihm das Wort vorhielt: „Sprich du zu meiner Seele: Ich bin deine Hilfe“, sagte er: „Es heißt eigentlich: Ich bin dein Jesus!“
Seinen Schwiegersohn, Pfarrer Ludwig David Cleß, verdanken wir einen Bericht über die letzten Stunden des großen Predigers: „In dieser seiner letzten Nacht fing er von morgens ein Uhr an, je länger je mehr zu erstarren. Gegen fünf Uhr wurde man eines Brandmals am linken Fuß und gegen sechs Uhr eines an der linken Hand gewahr. Man brachte die ganze Nacht mit ihm unter Beten und Singen zu, wie er befohlen hatte, daß man ihn den Chören der heiligen Engel entgegenbringen und mit Gesang an sie überliefern sollte, und obschon er die Sprache fast völlig verloren hatte und das Kinn ihm bereits merklich steif zu werden anfing, so faßte er doch nicht lange vor seinem Ende auf die Frage eines ihm werten Freundes, wie ihm sei und ob die Wunden Jesu recht offen stünden, noch alle seine Kräfte zusammen und sagte mir vernehmlicher Stimme: „In Absicht auf mich, ja freilich!“
Am 16. April 1743 ist er in den Morgenstunden selig eingeschlafen. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedhof an der Hospitalkirche. Dankbare Liebe ließ auf den Stein, der sein Grab schmückte, die Worte setzten:
An Aarons Tage starb ein Aaron unserer Zeit;
er war von Jugend auf den Dienst des Herrn geweiht.
Wie stark sein Geist, sein Glaub`, sein Licht gewesen,
das kann ein jeder noch aus seinen Schriften lesen.
Sein Glaub` und Hoffnung, sein Wort und Leben steht in seinem Leichentext: 1. Timotheus 1, 15.
Dr. Theodor Fliedner,
Buch der Märtyrer,
Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth,
1859