Odilia

Odilia

Auf einem Felsenvorsprung des Wasgaus von 800 Fuß Höhe, fünf Stunden von Straßburg, findet man die leider mehr und mehr in Verfall gerathenden Gebäude des ehemaligen Odilienklosters. Es ist dies noch jetzt ein vielbesuchter Wallfahrtsort für Elsaß und Lothringen und weiter umher. Aermlich in seiner äußern Erscheinung, aber groß durch die diesen Ort umgebende herrliche Natur, und vor allem durch die an dies alte, graue Gemäuer sich knüpfende Erinnerung. Wir haben oft schon, aber nie ohne Rührung heiliger Ehrfurcht diese Räume betreten, ohne das Gefühl und Bewußtsein, daß hier eben eine der ersten Stätten christlichen Gottesdienstes, christlicher Bildung im Vaterlande sich finde. Der heiligen Odilia und ihrer Familie verdankt dieses mehr als tausendjährige Heiligthum Ursprung, Schutz und Ruhm. Odilia ist die eigentliche Stifterin des Klosterlebens im Elsaß.

Odilia, Tochter Attics1) (Athalrich, Ethilro) Herzogs im Elsaß und dessen Gattin Bereswinde, Tante des Bischofs zu Autun Leodegarius, wurde blind geboren, der rauhe rücksichtslose Vater hatte einen erstgeborenen Sohn und Erben erwartet. Im wilden Zorn verstieß er die Tochter, denn er meinte sich entehrt. Odilia wurde zuerst einer Amme anvertraut, sodann ward sie in das Kloster Palma (Beaume les Nonnes bei Besancon) zur Erziehung gethan. Hier erlangte sie ihr Gesicht wieder und gewann den Sinn für klösterliches Leben. Odilia wuchs heran, da wurde sie von einem ihrer Brüder, Hugo, ohne des Vaters Wissen, bewogen zurückzukehren in das väterliche Haus. Von der Höhe des Berges (Hohenburg), wo Attich zu Zeiten seinen Aufenthalt hatte, sah der Herzog eine Menschengruppe den Berg herankommen. Auf die an den Sohn gerichtete Frage, wer die Nahenden seien, gestand Hugo, daß es die Schwester sei, die nach so langer Verbannung in das väterliche Haus zurückkehre und zwar durch seine Mitwirkung. Da entbrannte Herzog Attich in grimmigem Zorn über das was er Hugos Ungehorsam nannte und der wilde Mann schlug den Sohn so, daß er kurze Zeit darauf starb.

Durch diesen furchtbaren Ausbruch aber ward Herzog Attichs stolzer Sinn gebrochen, sein hartes Herz ward plötzlich erweicht, Reue und Schmerz über den verübten Frevel öffneten von jetzt an sein Vaterherz sanfteren Gefühlen. Von jetzt an nahm Attich seine Tochter Odilia mit Wohlwollen auf und ihren Klösterlich frommen Sinn anerkennend, willigte er nicht bloß ein, daß sie sich nicht verheirathe, sondern er räumte ihr auch den obern Theil des Berges, wo sein Schloß Hohenburg gelegen und der von Riesenmauern aus uralter celtischer Vorzeit umgeben ist, willig ein, um daselbst eine Andachtsstätte, ein Kloster zu errichten. Dieses geschah (nach Grandidier) um das Jahr 680.

Allen Glanz des väterlichen Fürstenhofes, alle Vortheile und Genüsse, die ihr vornehmer Stand gewähren konnten, verschmähend, brachte Odilia ihr Leben in dieser Wald- und Bergeinöde zu, fern von dem Getümmel der Welt, denn Kriege waren damals noch die Hauptbeschäftigung der halbwilden Bewohner unseres Landes. Sie sammelte um sich der eine Anzahl, es waren 130, gleichgesinnter Frauen aus adeligen Familien, welche dem Beispiel der Fürstentochter folgend und nach der Weise der Zeit ein gottgeweihtes Leben führen wollten. Odilia ward die erste Aebtissin dieser einsamen Klostergemeinde. Herzog Attich hatte durch Abtretung eines bedeutenden Theils seines reichen Besitzthums für den Unterhalt dieses Klosters gesorgt.

Odilia beschäftigte sich indessen nicht bloß mit klösterlichen Betrachtungen, sondern die unermüdete Frau wurde durch ihre Wohlthätigkeit ein Segen für die ganze Umgegend; bald waren es Kranke oder Arme in den nahgelegenen Dorfschaften, bald fremde Pilger, die ihre helfende Liebe in Anspruch nahmen. Der Ruf ihrer Wohlthätigkeit verbreitete sich bald weit umher. Da die mühsame Ersteigung des hohen Klosterberges ein nicht geringes Hindernis für die Hülfesuchenden war, so ließ Odilia, um das Jahr 700, am Fuß des Berges in einem freundlichen Wiesenthale, zuerst ein Hospital mit einer kleinen Kirche, dann ein Kloster erbauen, das seiner Lage wegen, in Beziehung auf Hohenburg, den Namen Niedermünster erhielt. Odilia besuchte täglich bis in ihr hohes Alter diese neue Anstalt und übergab ihr genau die Hälfte der zu Hohenburg gehörigen Güter, um jeden Anlaß zur Eifersucht zwischen beiden Klöstern zu vermeiden.

Otilia hatte diesen beiden Klöstern, aus kluger Berücksichtigung der Umstände, nicht eine bestimmte Ordensregel vorgeschrieben; es herrschte unter ihr ein gewisses freieres, aber allerdings geordnetes, frommes Zusammenleben. Sie erklärte bestimmt, als einige ihrer Klosterschwestern aus übertriebenem Eifer eine strengere Lebensart eingeführt wünschten, daß man auch die schwersten Opfer sich müsse gefallen lassen, um Christo nachzufolgen; daß man aber auch an die, die nach uns kommen, denken müsse. Die ausnahmsweise Lage des Klosters fordre schon hinlänglich und beständig Arbeit. „Können wir doch, setzte sie hinzu, nicht ohne große Anstrengung kaum ein wenig Wasser den Berg herauf holen. Warum den Leib also noch durch unnöthige Selbstpeinigung quälen. Nicht was den Leib niederdrückt, sondern was die Seele reinigt und heiligt, das ist es was wir nie unterlassen sollen.“

Ein andermal sprach die ehrwürdige Frau auf jenem bekannten Felsenvorsprung stehend und in der Mitte ihrer Klostergemeinde gegen die Ebene gewendet: „Sehet, meine Schwestern, diese reiche Ebene mit ihren Städten und Dörfern, wo ihr vormals lebtet nicht ohne Befleckung des Leibes und der Seele. Der Fels auf dem ihr stehet, trennt euch jetzt von denselben. Er ist euch ein Bild des himmlischen Berges, den ihr erklimmen sollt, dort seid ihr frei von den brennenden Sonnenstrahlen, von dem rauhen Nordwind, Regen und Wintersturm; dort ist ewiger Frühling.“ (Ruys).

Während 40 Jahren wirkte Odilia auf Hohenburg in Glauben und unermüdeter Liebe. Der 13. December 720 wird als ihr Todestag angegeben.

Ihr Leben ist mehrfach beschrieben und durch Legenden ausgeschmückt worden. Wir haben hier bloß das wirklich Geschichtliche erwähnt. Bald nach ihrem Tode wurden das Gedächtnis und die Reliquien dieser ausgezeichneten Fürstentochter ein Gegenstand der Verehrung. Schon in einem Martyrologium des 8. Jahrhunderts wird Odiliens Todestag unter den in Bisthum Straßburg festlich begangenen Tagen genannt. Viele Wundersachen reiheten sich an ihr Gedächtnis, deren Werth wir dahin gestellt sein lassen.

J. W. Röhrich in Straßburg.

1) Attic war der Ahnherr der Fürstenhäuser Habsburg, Lothringen, Zähringen, Baden und durch die Familie d’Anjou des französischen Königshauses.