Philippus der Apostel ist nicht zu verwechseln mit dem Philippus, welcher unter den sieben ersten Diakonen der Gemeinde zu Jerusalem erscheint (Ap. Gesch. 6,5), für das Evangelium erfolgreich in Samaria wirkt (Ap. Gesch. 8, 5 ff.), auf dem Wege von Jerusalem nach Gaja den Kämmerer der Königin Kandace tauft (Ap. Gesch. 8, 26 ff.) und später (Ap. Gesch. 21, 8) als Evangelist in seinem Hause zu Caesarea den Apostel Paulus und dessen Begleiter auf ihrer Reise von Miletus nach Jerusalem aufnimmt.
Der Apostel Philippus, in den vier Apostelverzeichnissen stets als der fünfte in der Reihenfolge, also an der Spitze der zweiten Vierzahl aufgeführt, tritt dieser Stellung entsprechend in der evangelischen Geschichte zwar hinter den beiden Brüderpaaren, welche die erste Vierzahl bilden, etwas zurück, vor den übrigen Jüngern jedoch in manchen Erzählungen nicht undeutlich und zwar stets in derselben Beziehung als Vermittler und Sprecher in einer der Weise des Petrus verwandten Art hervor.
Mit Andreas und Petrus aus derselben Stadt (Joh. 1,44), Bethsaida in Galiläa (12,21), wird er einen Tag später als diese Brüder von Jesu selbst gefunden, als dieser von der Taufstätte am Jordan wieder in Galiläa ziehen wollte, und mit dem Worte: „folge mir nach“ aus einem Johannesschüler zu einem Jünger Jesu gemacht. Sogleich zeigt sich sein praktischer, auf das unmittelbar Vorliegende gerichteter Sinn, seine Lust am Helfen und ungesäumten Zufassen, sein Eifer im Bekennen und Vermitteln, sein lebendiger, schriftmäßiger, auf die persönliche Erfahrung dringender, jedoch noch nicht völlig entwickelter Glaube.
Er findet den Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesum, Josephs Sohn von Nazareth.“ Und als Nathanael sein Bedenken in der Frage ausspricht: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“ antwortet ihm Philippus mit der Aufforderung: „Komm und siehe es.“
Mit dieser Berufungsgeschichte stimmt nicht gut die durch Clemens von Alexandrien uns aufbewahrte Nachricht, Philippus sei der Jünger gewesen, welcher die Aufforderung Jesu: „folge mir nach“ mit der Bitte: „Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe“ beantwortet und darauf die Weisung empfangen hatte: „laß die Todten ihre Todten begraben; gebe du aber hin und verkündige das Reich Gottes“ (Matth. 8,21.22. Luk. 9,59.60). Diese Annahme hat nichts für sich als den Gleichklang der Berufungsworte. Ein willkommenes, wenn auch nur spärliches Licht fällt dagegen auf den Philippus aus den ferneren Berichten des Johannes, zunächst bei dem Speisungswunder kurz vor Ostern (Joh. 6, 5-7).
Philippus ist der Jünger, zu welchem sich Jesus, als er viel Volks zu sich kommen sieht, mit der Frage wendet: „Wo kaufen wir Brod, daß diese essen?“ Das sagte er aber nach der Bemerkung des Johannes, ihn zu versuchen; denn er wußte wohl, was er thun wollte. Und Philippus antwortete: „Zweihundert Pfennig werth Brods ist nicht genug unter sie, daß ein jeglicher unter ihnen ein wenig nehme.“ Weiset hier nicht jedes Wort auf einen wohlwollenden Vermittler hin, der als praktischer und stets hülfsbereiter Mann bekannt, sich auch jetzt darüber, daß er Auskunft geben und die Verlegenheit beseitigen soll, durchaus nicht wundert, sondern diese Zumuthung als ganz berechtigt anerkennt, auch schnell mit dem Ueberschlage der Kosten, der Mittel und des Bedürfnisses fertig ist, in diesem Geschäftseifer jedoch den Wink der versuchenden Frage Jesu mißverstehen, in dem allernächsten und unmittelbar vor ihm Stehenden nicht sogleich den alleinigen Meister und allgenugsamen Helfer erkennt, von dem er selbst die wahre Praxis der Gotteshilfe noch zu lernen hat.
Diese Erfahrung mag ihn wohl etwas schüchtern gemacht haben; aber seine Stellung und seinen Charakter hat sie nicht geändert. Er ist der wohlwollende Vermittler geblieben, wenn er auch nicht so dreist auftritt wie zuvor. Als einst etliche Griechen, die nach Jerusalem hinaufgekommen waren, daß sie anbeteten auf das Fest, Jesum gern sehen wollten, da traten sie mit der entsprechenden Bitte zu Philippus (Joh. 12,21). Dieser ist auch sogleich zur Vermittelung bereit. Aber er scheint dessen eingedenk zu sein, daß er sich in Acht zu nehmen hat und nimmt deshalb seinen Landsmann Andreas, der überdies bei dem Speisungswunder mit ihm in ziemlich gleicher Lage und Stimmung war (Joh. 6,8.9), in Mitrath und Beihilfe. So glauben wir die Worte der Erzählung verstehen zu dürfen (Joh. 12,22): Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagten es weiter Jesu.
Noch einmal tritt Philippus in der evangelischen Geschichte hervor. Als Jesus auf eine Aeußerung des Thomas geantwortet und seine Rede mit den Worten geschlossen hat: „Wenn ihr mich kennetet, so kennetet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennet ihr ihn und habt ihn gesehen“, da spricht Philippus: „Herr, zeige uns den Vater, so genüget uns“ (Joh. 14,8). Hier äußert sich nicht etwa ein kindisches Verlangen oder die abentheuerliche Forderung eines blöden Verstandes, sondern die kühnste Forderung einer nach Gott dürstenden Seele wird laut und das feurige Heilsverlangen eines Herzens, welches weiß, daß zur vollen Genüge der Gläubigen das Schauen Gottes nicht entbehrt werden kann, macht sich Luft. Philippus fordert und hofft durch Jesum zu erlangen, was Moses begehret hat (2 Mos. 33,18) aber nicht erlangen konnte, nämlich das Angesicht Gottes zu schauen.
Sein Glaube an die Messianität Jesu ist so stark, daß er diesem Herrn, von welchem er so viele Zeugnisse seiner unvergleichlichen Macht gesehen, auch unbedingt das Vermögen zur Bewirkung dieses höchsten Wunders, welches selig macht und das Segen bringt, zutraut. Und seine Liebe ist so lebendig, daß er durchaus nicht eine persönliche Auszeichnung oder eine heimliche Gunst in Anspruch nimmt, sondern von aller Selbstsucht fern das höchste Gnadenwunder für alle Jünger erbittet und aus dem Gefühl des gemeinsamen Bedürfnisses heraus das kühne Verlangen mit kindlichem Glaubensmuthe stellt. Aber seine Einsicht in das Verhältniß Jesu zum Vater ist noch nicht völlig entwickelt. Er hat es noch nicht erkannt, daß man den Vater nicht außer und neben dem Sohne haben und sehen kann, weil der Sohn das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kol. 1,15) und das Strahlbild seiner Herrlichkeit ist (Hebr. 1,3). Er hält sich noch an den bloßen Unterschied, den der auf Erden wandelnde Jesus, welcher selbst im Gebet seine Augen gen Himmel hebt, zwischen sich und seinem himmlischen Vater macht und gedenkt nicht der ebenso wesentlichen Einheit, kraft welcher der Menschgewordene als Sohn Gottes den Unsichtbaren zur Erscheinung bringt. Er läßt, wie Luther sagt, „Christum da sitzen und reden, kann schlecht nicht haften an dem Christo, der mit ihm redet, sondern desselben ungeachtet spazieret er beiseit aus mit eigenen Gedanken und fladdert hinauf in die Wolken: Ach, daß wir den Vater doch sehen möchten, wie er droben sitzet unter den Engeln!“ Ihm fehlte damals noch die Erkenntniß von der Klarheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi (2 Kor. 4,6). Aber wir dürfen bei seinem Charakter annehmen, daß es von mächtiger Wirkung gewesen ist, als Jesus sogleich zu ihm sprach: „So lange bin ich bei euch und du kennest mich nicht? Philippe, wer mich siehet, der siehet den Vater. Wie sprichst du denn: Zeige uns den Vater? Glaubest du nicht, daß ich im Vater und der Vater in mir ist?“
Nach ziemlich übereinstimmender Ueberlieferung soll er seinen apostolischen Wirkungskreis in Phrygien gehabt und dort in der Stadt Hierapolis seinen Tod gefunden haben. Für seine geschichtliche Bedeutsamkeit spricht der Umstand, daß manche Gnostiker sich auf ein dem Apostel Philippus zugeschriebenes Evangelium berufen.
C. B. Moll in Halle.