Johann Valentin Andreä

geboren am 17. August 1586 in Herrenberg, wo sein Vater, der nachmalige Abt zu Königsbronn, Johann Andreä, damals Spezialsuperintendent und Stadtpfarrer war, und gestorben am 27. Juni 1654 in Stuttgart, ist der Enkelsohn des um die Reformation in Württemberg verdienten und durch seine Mitwirkung zur Concordienformel berühmt gewordenen Kanzlers Jakob Andreä in Tübingen. Sein Körper blieb von Geburt an zart und schwächlich; sein Geist und Gemüth aber war ungemein frisch, empfänglich und mittheilsam. Den Vater, unter dessen Leitung sein Unterricht begonnen hatte, verlor er schon mit 15 Jahren. Dem Einfluß einer frommen und verständigen Mutter verdankt auch er vorzugsweise die Weckung und Pflege christlicher Gesinnungen. In Tübingen, wohin dieselbe nach des Vaters Tode gegangen war, fand der lernbegierige Jüngling treffliche Lehrer, die ihn in Sprachen und Wissenschaften förderten, unter welchen ihm Geschichte und Mathematik besonders wichtig waren. Er legte hier den Grund zu der ausgebreiteten Gelehrsamkeit, die ihn unter seinen Zeitgenossen ausgezeichnet und für eine außerordentliche Thätigkeit auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Kirche und des Gemeinwesens befähigt hat. Die theologische Bildung vollendete er erst später unter dem besonderen Rathe Matthias Hasenreffers, nachdem er zuvor, theils durch die sittlichen Gefahren, die er im Kreise seiner Studiengenossen wahrnahm, abgeschreckt, theils von einem mächtigen Zuge nach weiterer Ausbildung getrieben, mehrere Reisen in Deutschland, durch die Schweiz und bis nach Italien gemacht hatte, auch durch die Armuth seiner Verhältnisse genöthigt worden war, sich der Leitung adeliger Jünglinge auf verschiedenen Hochschulen zu widmen. Die mancherlei Lebensbeziehungen, in die er hiedurch auch mit höheren Ständen getreten war, die reichen Erfahrungen, die er auf jenen Reisen gesammelt hatte, gaben seinen vielseitigen Kenntnissen frühe eine solche Reife, und seinen prächtigen Naturanlagen eine Gewandtheit, Sicherheit und Annehmlichkeit des Betragens und in Geschäften, daß er überall gerne gesehen war und nach einander mehrere fürstliche Personen ihm weltliche Bedienstung anboten. Aber Andreä hatte, neben dem Umgange mit Hasenreffer und anderen christlichen Freunden in der Heimath, vornehmlich durch seinen Aufenthalt in Straßburg, in Genf und unter den Protestanten in Oesterreich einen Eindruck empfangen, der auf seiner italienischen Reise und mitten unter den Anschauungen, welche ihm die Hauptstadt der katholischen Christenheit gewährte, zu dem Gelübde hindurchbrach, sich mit allen Gaben und Kräften, die ihm Gott verliehen habe, dem Dienste Seiner Kirche zu weihen. Im 28. Lebensjahre trat er in das geistliche Amt als Diakonus zu Vaihingen an der Enz ein. Auf dieser Stelle war ihm vergönnt, einen großen Theil seiner Zeit für wissenschaftliche Beschäftigungen zu verwenden, und indem er zugleich die schon in seinen Universitätsjahren rege gewordene Neigung zu schriftstellerischer Thätigkeit jetzt in reichem Maaße hervortreten ließ, entfaltete er zu allgemeinem Aufsehen seinen hochbegabten Geist, sein umfassendes Wissen und die ihm eigenthümliche Kunst einer anziehenden Schreibart. Dabei war es die edelste Triebfeder, die ihn beseelte, das höchste Ziel, das ihm vorschwebte, denn sein theuerstes Anliegen war die Ehre Gottes und die Förderung des Reiches Christi. Bei dem trostlosen Zustande jener Zeit, im Beginne des 30jährigen Krieges, wo in Staat und Kirche Alles darniederlag, wo namentlich unter den Evangelischen ein kalter Buchstabe, leere Streitsucht, tiefe Entsittlichung der Lebensverhältnisse, verkehrte Erziehung, unnützes Haschen nach Ergründung der Naturgeheimnisse und Hang zu verderblicher Schwärmerei herrschten, da erkannte Andreä es für seine erste Aufgabe, den Boden zu säubern, das freche Laster zu bekämpfen, den übermüthigen Wahn auszurotten, also angreifend und hinwegräumend zu wirken, bevor er aufbauend und darreichend ächte Gottesfurcht, Christentugend, Volkswohl und Kinderzucht, vernünftigen Unterricht, lautere Andacht anregen und einführen könnte. Dafür kam ihm nächst seinen ausgedehnten Kenntnissen ein dichterischer Sinn und Fülle des Witzes zu Statten. In meistens kleineren Schriften, welche großentheils aus Mährchen und Fabeln bestanden, oder in Gesprächsform erschienen, ging er dem Verderben zu Leibe und wußte die Thorheiten der Menschen, der gelehrten und ungelehrten, mit so feiner Laune zu schildern, daß der Scherz von Vielen für Ernst genommen wurde, daß namentlich ein Buch, worin die s. g. Rosenkreuzerei als ein geheimer Bund zur Erlangung der höchsten Weisheit und Glückseligkeit empfohlen ward, eine Unzahl Federn für und wider in Bewegung setzte und daß der bittere Spott, womit er in den unter seinem Namen gedruckten Schriften die Gebrechen und Ausartungen der verschiedenen Stände zu geißeln pflegte, ihm manchen Widerspruch und große Feindschaft zuzog. Er sagt das von in seinem, von ihm selbst beschriebenen Leben: „Ich bezeuge aufs Heiligste bei Gott, daß ich nicht aus Muthwillen Jemanden verfolgte, oder Lust hatte, Anderen zu schaden, sondern die Sache des Christenthums lag mir am Herzen, und ich wollte sie auf jede Art befördern. Da ich dies nun auf dem geraden Wege nicht konnte, so versuchte ich es durch Umwege, nicht, wie es Einigen schien, aus Liebe zum Spott, sondern so, wie viele Fromme es machten, daß ich durch Scherz und reizenden Witz etwas Ernsthaftes bezweckte und Liebe zum Christenthum einflößte.“ So dem Zeitalter einen Spiegel seiner Thorheiten vorhaltend, weckte er in Vielen das entschwundene höhere Bewußtsein und die Sehnsucht nach einem andern Zustande. Nicht minder jedoch trug Andreä auch bestimmte Rathschläge zur Verbesserung des religiösen und sittlichen Lebens vor. Vornehmlich dringt er damit auf Erziehung zur Frömmigkeit, nicht zu einer oberflächlichen und außergewöhnlichen, welche von Vielen zu den Nebengeschäften gerechnet wird, sondern zu der beständigen, feierlichen und vorherrschenden, die das ganze Leben begleite und beherrsche, und die Jugend ganz durchdringe.“ – „Jeder Christ sei ein Echo von Christo; jeder Geist weiche Christo; nichts erscheine witzig, scharfsinnig, geschmackvoll, verständig und übereinstimmend, was leer ist von Christo, welcher alles dieses auch hat und unendlich übertrifft. Verderbte Ohren, denen Plato süßer tönt als Johannes! blindes Urtheil, dem Aristoteles mehr gefällt als Moses! verwöhnte Zunge, der Tullius besser schmeckt als Paulus! hölzernes Herz, das Seneca mehr als Christus kräftigt!“ Auch entwarf er das Musterbild eines christlichen Staates und richtete diese inhaltreiche Schrift, welche, ins Einzelne gehend, Wissenschaft und Sitte, Religion und Politik vom christlichen Gesichtspunkte darstellt, an Johann Arndt mit den bescheidenen Worten: „Diese meine neue Stadt verdankt Dir ihr Dasein und blickt auf Dich hin. Denn da sie aus jenem großen Jerusalem, welches Du mit erhabenem Geiste gegen den Willen klügelnder Sophisten erbaut hast, als eine kleine Kolonie ausgeführt ist, so kann sie nicht anders als Alles auf Dich beziehen und für ihre Einrichtungen und Gesetze Dir ihren Dank sagen.“

Diese Grundsätze, welche er zuvörderst mit Waffen des schriftlichen Worts verfochten hatte, sollte Andreä nunmehr in immer umfassendere Wirklichkeit einführen, und zwar im Kampfe mit den außerordentlichen Mißgeschicken des Jahrhunderts, wie mit dem allezeit vorhandenen Widerspruch der Trägheit und des Eigennutzes, der Rohheit und des Hochmuths in seiner Umgebung, Er wurde i. J. 1620 Spezialsuperintendent in Calw, einer schon damals gewerbreichen Stadt am Schwarzwald. Hier suchte er alsobald das im Geist entworfene Bild einer wahren Christengemeinschaft zu verwirklichen, und begann mit der Sorge für Schule und Erziehung, widmete sich mit großem Eifer dem katechetischen Jugendunterrichte, regte die Liebesthätigkeit der wohlhabenderen Einwohner gegen die Armen und Nothleidenden zu heilsamen Veranstaltungen, vornehmlich zu dem, noch heute. im Seegen blühenden Färbergestift, an. Diese Anstrengungen verdoppelte er bei dem Ueberfall der Wallensteinischen Schaaren, ließ in der Hungersnoth die armen Kinder im Spital speisen, und den Alten und Kranken ihren Bedarf ins Haus bringen, auch dem wandernden Bettler eine Zehrung reichen. Noch mehr drang er auf christliche Sittenzucht in den Familien und im öffentlichen Wandel, und setzte dem Einfluß der wüsten Heerhaufen, da nach den Kaiserlichen bald auch die Schweden, dann abwechselnd Bayern und Franzosen in das Land fielen und sich jeden Greuel erlaubten, einen unerschrockenen Widerstand entgegen, obwohl er öfters von seiner Stelle vertrieben und zuletzt nur noch auf eine Wohnung in der Vorstadt angewiesen war und seinen Amtsbruder durch den Tod, seine Kirche wie sein Amtshaus und seine Bibliothek durch eine Feuersbrunst verloren hatte. Nach der Flucht des Landesfürsten, unter dem Hinsterben so vieler Tausende und bei dem Verluste eigener Angehörigen und theurer Freunde, in der Verwirrung aller Verhältnisse, im Anblick der verwüsteten Felder, der verödeten Städte und Dörfer, richtete ihn die Erscheinung Gustav Adolphs von Schweden mächtig auf, den er auch durch eine im Druck ausgegangene begeisterte Anrede als Retter für das zerrissene Deutschland und die zertretene Kirche, und als das Muster eines christlichen Regenten willkommen hieß; gleich wie er nach der Lützener Schlacht den Tod des Helden betrauernd, die Deutschen aufforderte, „in seinen Fußstapfen rechtschaffen, klug und tapfer zu sein.“ Zugleich erquickte ihn der briefliche Umgang mit zahlreichen Freunden, darunter die in Straßburg und Nürnberg auch bisweilen seinen persönlichen Besuch empfingen, und mit welchen er eine, alle Fragen der Zeit und die höchsten Zwecke des Lebens umfassende Verbindung zur Pflege und Ausbreitung christlicher Denkungsart geschlossen hatte.

Nach neunzehn prüfungsvollen Jahren trennte sich Andreä, wiewohl ungern, von der christlichen Gemeinde in dem geistlichen Bezirke, welchem er zu Calw vorgestanden hatte, und trat, nach wiederholter Einladung des Herzogs Eberhard III, von Württemberg, in die Hofpredigerstelle zu Stuttgart ein, mit welcher Sitz und Stimme im Consistorium verbunden war. Dieser neue und größere Wirkungskreis wurde der Schauplatz einer erweiterten und nachhaltigen Thätigkeit. Nicht nur lag er dem geistlichen Dienste mit unverdrossenem Eifer persönlich ob und predigte in schon vorgerücktem Alter zweimal die Woche. In der Behörde waren seine Bemühungen dahin gerichtet, dem in den Kriegsjahren herabgekommenen Kirchenwesen zunächst im geistlichen Stande selbst und in der Gemeindeordnung aufzuhelfen. Nachdem er „durch eine Kollekte den häuslichen Nothstand vieler Pfarrer erleichtert hatte, drang er bei der Regierung auf Herstellung des in Auflösung gerathenen theologischen Stifts in Tübingen, um frische Arbeitskräfte heranzubilden; und, traf ihm aus Genf in treuer Erinnerung geblieben, so daß er schreibt: „Hätte mich nicht die Verschiedenheit des Glaubens zurückgehalten, die Harmonie der Sitten würde mich hier auf ewig festgehalten haben, und ich strebte seitdem mit aller Anstrengung, etwas dergleichen in unseren Kirchen einzuführen“, was er auch wirklich schon in Calw durch Vereinigung christlich denkender Gemeindegenossen annähernd zu erreichen bemüht gewesen war; dies vermochte er endlich für das ganze Land einzurichten, eine Presbyterialordnung, zunächst als Sittengericht, durch Aelteste, welche mit dem Ortsgeistlichen über den Wandel der Gemeindeglieder wachen und durch Vermahnung, nöthigenfalls durch Anwendung von Strafmitteln, Zucht und Ordnung, zumal in den Ehen, auch fleißigen Kirchen- und Schulbesuch aufrecht erhalten sollten. Die i. J. 1643 zu Stande gekommene Kirchenkonventsordnung ist sein Werk; sie verbindet ein Heilsames Institut der Calvinischen Confession mit dem lutherischen Bekenntniß und Haushalt der württembergischen Kirche, und enthält auch in der Mißgestalt, in welcher ihr durch die Staatsgesetzgebung der neueren Zeit die christliche Seelsorge buchstäblich verboten ward, die Keime einer zweckmäßigeren Herstellung und Ausbildung des gesammten Kirchenwesens. Außerdem veranstaltete Andreä eine Sammlung der älteren und neueren Kirchengesetze und suchte im Consistorium selbst den kirchlichen Character dieser Behörde zu wahren und vor den gleich schädlichen Einflüssen einer politischen Bevormundung wie persönlicher Gewinn- und Herrschsucht sicher zu stellen. Aber hier scheiterten seine Pläne zuerst und andauernd, und er fühlte sich zurückgestoßen durch die Schwierigkeiten und Kränkungen, die er fand. Dazu waren die Anfeindungen, die er als ein Gesinnungsgenosse Johann Arndt’s, durch die vorzugsweise Pflege eines in That und Leben bezeugten Christenthums, besonders von den Tübinger Theologen zu erleiden hatte, eine Quelle mancher Bekümmerniß und Sorge, die fein geschwächter körperlicher Zustand, oft vermehrte. Wohl erfreute er sich der Liebe und des Vertrauens, das er noch von vielen Seiten, zunächst von drei Prinzessinnen seines Hofes, die Andreä in seinen Briefen die württembergischen Grazien nennt, zu genießen hatte, und der Freundschaft, die ihm die zwei edelsten Deutschen Fürsten jener Zeit, Ernst, der Fromme von Sachsen, und August von Braunschweig-Lüneburg, schenkten, welcher letztere in wöchentlichem Briefwechsel mit ihm stand und durch einen Jahresgehalt und reichliche Geschenke – er sandte ihm unter Anderm ein Reitpferd, und eine Sänfte zur Reise nach Braunschweig, die aber nicht mehr zur Ausführung gelangte, den Bedürfnissen und Beschwerden seines höheren Alters zu Hülfe kam. Gleichwohl ergriff Andreä die Gelegenheit, sich auf die Abtei Bebenhausen, und als er hier eine Generalsuperintendenz hatte übernehmen müssen, die mit neuen Anfechtungen und manchem Aerger verbunden war, auf die ruhigere Prälatur Adelberg zurückzuziehen.

Aber kaum war er hieher versetzt und befand sich eben mit dem ständischen Ausschuß in der Hauptstadt: so rief ihn der Herr in die ewige Heimath. Einen Mann, in welchem das heilige Feuer der Reformation fortglühte und durch die Trübsale einer bösen Zeit in die späteren Jahrhunderte herüberleuchtet, von den mannichfaltigsten Gaben, die einem frommen Sinne dienstbar sind, von der ausgebreitetsten Wirksamkeit, die auf ein ewiges Ziel hinsteuert, von unverwüstlicher Frische, unermüdlichem Eifer, fleckenloser Gemüthsart; einen Mann, wie Andreä selbst ihn in seinem letzten Buche (Theophilus, 1622 verfaßt, 1649 herausgegeben) schildert: „Wo eine brennende Liebe zu Christo eingekehrt ist, und ihm ein bereiter Gehorsam dargeboten wird, da ist es leicht, alle übrigen Pflichten eines Christen, besonders aber eines Geistlichen, darauf zu bauen, nemlich zu glauben ohne Ausnahme, zu handeln ohne Rückhalt, zu dulden ohne Murren, mit Einem Wort, das ganze Leben der Lehre gemäß zu bilden, und, was man im Munde führt, durch Werke öffentlich zu bekräftigen.“ Andreä hat eine Menge von Schriften verfaßt, und sie zum großen Theil durch den Druck ausgehen lassen, doch die meisten in der, ihm geläufigeren lateinischen Sprache. Die deutschen, zumal Dichtungen, sind weniger fließend und gewandt, als jene andrer Zeitgenossen; auch besteht ihr Vorzug mehr in dem witzigen Gedanken, der den Leser überrascht und ihm eine Wahrheit einleuchtend, einen Grundsatz werth macht, als in dem erhabenen oder innigen Ausdruck christlicher Gefühle, die das Herz rühren. Sie fanden daher auch weniger Eingang im Volk als unter den höher Gebildeten. Aber die Anregung, die Andreä, durch Wort und That, seiner Zeit gegeben, ist nachhaltig geblieben und erstreckt sich unübersehbar in die weitesten Kreise. Was er den Besten der Nachwelt gegolten habe, was er auch uns unter den Bestrebungen und Kämpfen, Aussichten und Besorgnissen der Gegenwart, zumal in dem Werke der inneren Mission, zu gelten verdiene, hat Niemand ehrenvoller für ihn als Spener in dem denkwürdigen Ausspruch bezeugt:

„Könnte ich jemand zum Besten der Kirche von den Todten erwecken, es wäre Valentin Andreä.“

C. Grüneisen in Stuttgart.