Vorbemerkung.
Lambert von Avignon zählt nicht zu den Reformatoren ersten, ja nicht einmal zweiten Ranges. Weit entfernt davon wie Luther, Calvin, Zwingli eine Hauptströmung in dem Leben des Reformations-Zeitalters zu bedingen, oder wie Melanchthon und Beza auf dem theologischen oder politisch-religiösen Gebiete eine hervorragende Stellung einzunehmen, oder wie Bucer, Bugenhagen, Peter Martyr durch umfassende und erfolgreiche praktische Wirksamkeit hervorzuleuchten, gehört er nicht einmal zu denen, welchen wir im deutschen Sinne einen großen Character beilegen. Letzteres soll nun zwar nicht sagen, daß er eine unlautere Natur gewesen sei, (war er doch sogar ein Mann, der sich durch große Offenheit und Ehrlichkeit, mehr noch durch feste Entschiedenheit und seltene Opferfreudigkeit auszeichnete); aber doch das, daß seinem Feuer zu viel von Ungeduld, seinem Ernste zu viel von Flüchtigkeit, seiner Andringlichkeit zu viel von Zudringlichkeit, seiner Freimüthigkeit und Beredsamkeit zu viel von Redseligkeit und Eitelkeit beigemischt war, als daß ein deutsches Auge auf seiner Erscheinung mit besonderem Wohlgefallen ruhen konnte. Er war eben durch und durch ein Franzose und zwar ein Südfranzose.
Dennoch ist er eine sehr beachtenswerthe Persönlichkeit. Er hat in einem kurzen Leben die Reformation durch feurige Rede und viele Schriften mannigfach angeregt und in dieser Hinsicht namentlich für sein Vaterland viel gethan. Bei der Reformation in Hessen aber, welches neben Sachsen ein Hauptbrennpunkt des neuen Lebens wurde, wurde ihm von Philipp dem Großmüthigen erst auf der Synode in Homberg und sodann durch Uebertragung eines Lehrstuhles der Theologie eine bedeutsame Stellung zugewiesen. Auf wissenschaftlichem Gebiete hat er wenigstens mehr als Mittelmäßiges geleistet. Wenn sich seine Schriften auch nicht durch Tiefe und Gründlichkeit der Forschung auszeichnen, so läßt es sich ihnen doch nicht absprechen, daß sie viele gesunde Gedanken enthalten und durch ihre Klarheit und ihre eindringliche und lebendige Darstellung auf große Leserkreise befruchtend einwirkten. Sehr große dauernde Bedeutung hat Lambert aber dadurch gewonnen, daß er die Entwicklung der Verfassung und Kirchenzucht der reformirten Kirche mannigfach bedingte. Lassen wir es uns nicht verdrießen, auf sein interessantes und wechselreiches Leben genauer einzugehen.
1. Seine Jugend und sein Mönchsleben
Franz Lambert wurde im Jahre 1487 zu Avignon geboren und war wahrscheinlich das einzige Kind seiner Eltern. Sein Vater, welcher aus dem Städtchen Orgelet in der Franche-Comté stammte, wo auch später noch das Geschlecht der Lambert blühte, bekleidete die ansehnliche Stelle eines Geheimschreibers des römischen Erzbischofs und Legaten, welcher in dem großen und weitläufigen Schlosse der Päpste seine Residenz aufgeschlagen hatte. Avignon war längst von seiner früheren Herrlichkeit herabgesunken. Nur die vielen Klöster und Kirchen, welche auch in unseren Tagen noch den dritten Theil der Stadt einnehmen, bezeugten, daß es einstmals ein Mittelpunkt des kirchlichen Lebens und mittelalterlicher Herrlichkeit gewesen war. Da der Knabe, ein frommes und talentvolles, lebhaftes und schönes Kind, früh seinen Vater verlor, kam er unter die Leitung der Franciscaner, welche seine Mutter zu verstricken wußten und wahrscheinlich nach dem Erbe lüstern waren. Das ehrwürdige Aeußere und die einschmeichelnde Beredsamkeit der Mönche, welche die Heiligkeit und Verdienstlichkeit, Ruhe und Süßigkeit ihres Lebens dem Kleinen so häufig rühmten, wirkten in dem Maße auf Franz ein, daß er sich entschloß, ebenfalls Mönch zu werden. Fünfzehn Jahre alt wurde er als Novize aufgenommen und ein Jahr später als Mönch eingekleidet. Aber welche Enttäuschung wurde ihm nun zu Theil! In welche Abgründe des Verderbens, die man ihm, so lange seine Person und sein Vermögen dem Kloster noch nicht gesichert waren, sorgfältig verborgen hatte, mußte er nun hineinblicken! Nicht christliche Demuth, sondern Eitelkeit und Neid, nicht Liebe und Gehorsam, sondern Rachsucht und Trotz, nicht heilige Sitten, sondern elender Sündendienst herrschten in den heilig gewähnten Klosterräumen.
Lambert’s frommer Sinn und seine Talente bewirkten, daß er bald ein Gegenstand fast allgemeinen Neides bei seinen Ordensbrüdern wurde. Selbst seine Predigten, womit er vor das Volk hintrat und dieses in feuriger, beredter Sprache zur Buße aufforderte, und der geistliche Ernst, womit er es auf die Rettung der armen Seelen abgesehen hatte, erweckten ihm Mißgunst. Die Mönche konnten es nicht ertragen, daß er bei Vornehmen und Geringen offenen Zugang fand und vielen Beifall gewann.
Wie erschütternd seine Strafpredigten wirkten, erkennt man unter Anderem daraus, daß in Folge einer Predigt, welche er in einem Städtchen gehalten hatte, die Leute einmüthig Bilder, Karten und Würfel brachten und – sie in einem auf sein Geheiß angezündeten Feuer verbrannten. Besonders tief griff er dadurch an das Herz des Volkes, daß er statt gewöhnliche Mönchspredigten zu halten und sich auf moralische Vorträge und Erzählung von Heiligengeschichten zu beschränken, das göttliche Wort und zwar nicht in lateinischer Sprache, sondern in französischer Landessprache predigte. Er selbst sagt: es drängte mich heftig eine gewisse geheime Gewalt und zwar wohl nicht ohne Einwirkung des heiligen Geistes, zu dem Studium der heiligen Schrift und zur Verkündigung des göttlichen Wortes. Ob hierbei die Bekanntschaft mit den in der Nähe wohnenden Waldensern auf ihn von äußerem Einfluß gewesen sei, muß dahin gestellt bleiben. Sehr gesegnet scheinen namentlich die Predigten gewesen zu sein, welche er auf längeren Fußreisen als apostolischer Prediger des Klosters in den abgelegeneren Gemeinden zu halten hatte, und worin er zuerst über den Psalter, dann über Hiob und Jeremias, endlich gar über den Römerbrief und die Offenbarung Johannis predigte. Der Römerbrief soll sehr frühe auf sein eigenes Herz großen Einfluß gehabt und allerlei Bedenken in ihm erweckt haben. Schon in dieser Zeit erhob er einmal eine Anklage gegen einen öffentlichen Ablaßprediger und setzte es durch, daß derselbe von der Obrigkeit der Stadt verurtheilt wurde.
Inneren Frieden besaß Lambert so wenig als irgend ein anderer Mönch. Wer kann diesen finden in äußeren Werken, die uns entweder zu Hochmuth verführen, oder, wenn wir ihre Unzulänglichkeit Gott gegenüber erkennen, in Traurigkeit und Verzweiflung versenken? Wie wenig der Mensch ohne die Gnade und den heiligen Geist auch nur die Triebe des Fleisches bändigen kann, darüber berichtet Lambert aus eigener Erfahrung heraus mit folgenden Worten: „Ich kenne einen Menschen, der brannte häufig, obwohl er seinen Leib oft mit vielen und strengen Fasten casteiete, lange Zeit nicht anders als sitzend auf einer harten Bank schlief, die rauhesten Gewänder trug und vielmals seinen Leib geißelte. Obwohl er den Anblick der Frauen vermied und sich so mit Selbstpeinigungen quälte, daß er oft kaum auf den Füßen stehen konnte, so vermochte er es doch nicht zu erlangen, daß seine Seele nicht von bösen Begierden und Gedanken entzündet war. Diese ruhten erst, als er gemäß göttlichem Befehle in den Ehestand trat.“ Im Mai 1524 schrieb er: „Die bloße Anfechtung bewirkte, daß ich früher unruhiger war als jetzt, da ich in großer Armuth und unter vieler Arbeit für mich und meine Familie sorgen muß.“
Wie sehr die Macht der Verhältnisse und der anerzogenen Irrthümer auch auf Lambert übrigens wirkte, erkennt man daraus, daß er selbst nach solchen Erfahrungen am Mönchsleben nicht irre wurde. Nicht blos in mündlicher, sondern auch in schriftlicher Rede stand er noch immer für dasselbe ein. Später schreibt er: „Ich habe sehr viele zu dem Mönchsstande und dem Verharren in demselben ermahnt. Ich habe gesündigt und mehr, als es sich beschreiben läßt, werde ich von der Furcht gemartert, daß ich die Ursache unzähliger Sünden gewesen bin.“ Auch als der Haß seiner Ordensbrüder sich gegen ihn noch mehr steigerte, kam er zunächst nicht zu dem Entschlusse, das Mönchsleben überhaupt zu verlassen, sondern zu dem anderen, aus diesem Kloster und diesem Orden auszutreten. Er entschied sich, damit man nicht sagen könnte, daß er aus fleischlichen Gründen wechsele, für den strengsten aller Orden, den der Karthäuser. Schon war er mit diesem in Unterhandlungen getreten und zum Friedenskusse zugelassen, da wurde sein Plan von seinen Ordensgenossen theils durch besänftigende Vorstellungen (denn sie fürchteten, daß durch den Austritt eines so bedeutenden Mannes ihr Ansehen gefährdet werde), theils durch Verläumdungen bei den Karthäusern vereitelt. Die göttliche Vorsehung hatte über ihn beschlossen, daß er nicht halb, sondern ganz frei werden und zu dem Ende zuerst innerlich freigemacht und erleuchtet werden sollte.
Wieviel Lambert leiden mußte und wie sehr er beneidet wurde, erkennt man unter Anderem aus folgenden Thatsachen. Als er einst vor einem päpstlichen Legat predigen sollte, erklärten ihn seine Oberen, weil sie sein Talent und seine Freimüthigkeit fürchteten, für krank und als er dann über solche Lüge dem Guardian Vorstellungen machte, bedrohte man ihn mit Kerker und Folter. Die Behandlung, welche er im Kloster erfuhr, war eine harte und niederträchtige. Kälte, Spott und Hohn wurden gegen ihn gerichtet. Hatte er ein Maulthier oder Pferd von Freunden geschenkt bekommen, damit die Beschwerden seiner größeren Reisen ihm erleichtert würden, so wurden ihm diese Thiere von den Mönchen alsbald weggenommen und verkauft. Zumal den sittlichen Ernst Lambert’s vermochten die schamlosen Mönche nicht zu ertragen. So wurden sie namentlich dadurch einmal erbittert, daß er ihnen über die Zurückhaltung des Bildes eines unzüchtigen Mädchens, welches dem Feuer übergeben werden sollte, eine Strafpredigt hielt. Daß Lambert übrigens auch seinerseits die Ordensgenossen bisweilen durch sein zuversichtliches und etwas schroffes Wesen reizte und seine Stellung sich unnöthigerweise erschwerte, ist nur zu wahrscheinlich.
Eine Wendung in seinem Leben wurde dadurch herbeigeführt, daß auch bis zu ihm die so mächtig predigenden Schriften Luther’s drangen. Durch den Handelsverkehr waren sie nach Lyon und in dessen Umgegend gekommen und wurden dort in Uebersetzungen verbreitet und vielfach gelesen. Lambert wurde durch sie tief ergriffen und bewegt. Was er geahnt und gemuthmaßt, las er hier mit Klarheit erkannt und mit Ernst und Kühnheit offen ausgesprochen. Als man diese Schriften bei ihm entdeckte und sie zum Feuer verurtheilte, hatten sie bereits bei ihm gezündet. In sich versenkt aber fest entschlossen harrte er des Tages und der Gelegenheit, wodurch er frei zu werden hoffte. Und diese erschienen. Beauftragt Briefe an seinen General oder Vicegeneral nach Deutschland zu bringen, verließ er das Kloster, um niemals wieder dahin zurückzukehren, der erste französische Mönch, welcher dem Lichte des Evangeliums zustrebte.
2. Lambert in der Schweiz, Eisenach und Wittenberg.
Zwanzig Jahre lang war Lambert Mönch gewesen, als er im Frühling des Jahres 1522 Avignon verließ. Er stand nun im 35sten Lebensjahre. Ueber Lyon begab er sich nach Genf, wo damals Sebastian von Montfaucon, ein junger, stolzer und heftiger Herr, Bischof war. Wiederholt unterhielt er sich mit diesem über die damals vielfach angeregte Zeitfrage von der Gewalt und dem Ansehen der Kirche und der Concilien. Auch predigte er öfters vor ihm und zwar mit Beifall. Wie stark Lambert schon hier seine neuen Anschauungen hervortreten ließ, erkennt man unter Anderem daraus, daß die Mönche des Ortes ihn bei seinem Gönner als einen Ketzer verdächtig zu machen suchten. Von Genf begab er sich, mit Empfehlungsschreiben des Herrn von Montfaucon ausgerüstet, über Freiburg, wo er ebenfalls eine Predigt hielt, nach Bern. Hier trat ihm eine ganz neue Welt entgegen. Jung und Alt waren daselbst schon von den Reformationsideen angeregt und kämpften für oder wieder dieselben. Wie wurde ihm hier so wohl, da er das, was er bisher nur in stillem Herzen bewegt hatte, von Andern mit Klarheit und Schärfe aussprechen und mit Muth und Freudigkeit bekennen hörte! Wie förderte es ihn, da er hier mit einem Sebastian Meier und Berthold Haller seine Gedanken austauschen und vor ihnen sein volles Herz ausschütten durfte! Der feurige Lambert konnte, also angeregt, sich nicht enthalten, auch hier predigend aufzutreten. Und es machte einen wunderbar tiefen Eindruck auf das berner Volk und viele Priester, als sie das, was sie bisher nur von Deutschen selber aussprechen hören, nun auch von einem Franzosen und Mönch, ja einem Franziskaner, vertreten sahen. Lambert redete mit großem Freimuthe von der Kirche, dem Priesterthum, der Messe, der Tradition und dem heuchlerischen Aberglauben der Orden und Ordensleute. Da er des Deutschen unkundig war, sprach er in lateinischer Sprache. Von Bern ging Lambert nach Zürich. Haller gab ihm einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den Reformator Zwingli mit. Hier war der Kampf schon aufs heftigste entbrannt. Zwingli, gerade damals von den Ordensgenossen des Ankommenden hart verklagt, hieß den jungen Mönch, der sein graues Mönchskleid bis dahin noch nicht abgelegt hatte, herzlich willkommen. Lambert ließ sich über manche Punkte von Zwingli Aufschluß geben. Sehr entscheidungsvoll wirkt auf ihn eine öffentliche Disputation ein, worin er Zwingli gegenüber namentlich die Fürbitte der Heiligen zu rechtfertigen suchte. Er wurde gänzlich besiegt. Nach Beendigung der Disputation sprach er vor der ganzen Versammlung das Bekenntniß aus: „Ich erkenne, daß die Fürbitte der Heiligen gegen die heilige Schrift ist, ich gebe alle Rosenkränze und alle Fürsprecher auf und ich will mich in aller Noth an Gott allein und Jesum Christum halten, unsern Herrn.“
Ueber Basel, wo er den Desiderius Erasmus begrüßt haben soll, begab er sich nun in das Land, wohin vor Allem sein Verlangen stand. Damit er um so leichter den Verfolgungen seiner zahlreichen überall verbreiteten Ordensbrüder entgehe, vertauschte er seinen Namen und nannte sich Johannes Serranus. In Eisenach machte er Halt. Er hielt es für gut, sich, bevor er nach Wittenberg aufbreche, bei dem Kurfürsten von Sachsen und Dr. Luther vorher anzumelden. In einem Brief, worin er den Hofprediger Spalatin um seine Vermittelung anging, bat er um Zulassung zu einer Unterredung mit jenen Beiden.
Von November des Jahres 1522 bis zum Januar 1523 verweilte er, auf Antwort harrend, in Eisenach. Zu seiner großen Freude durfte er schon hier, in einer Stadt, worin der größere Theil der Bürger sich der Reformation bereits zuneigte, thätig in die Bewegung der Zeit eingreifen. Nicht nur daß er den des Lateinischen kundigen Bewohnern der Stadt das Evangelium des Johannes auslegte, veröffentlichte er auch 139 Thesen, welche er an einem zu einer öffentlichen Disputation ausgeschriebenen Tage (21. December 1522), gegen Jedermann zu vertheidigen sich erbot.
Spalatin hatte in Lambert’s Sache sich den Rath Luther’s ausgebeten. Dieser, da er nur zu häufig von entlaufenen zuchtlosen Mönchen getäuscht wurde und durch die unruhigen Anhänger Carlstadt’s und die Müntzerische Schwärmerrotte, welche ihm selbst und der Reformation zum Vorwurfe gemacht wurde, sich zu einer vorsichtigen Behandlung Fremder veranlaßt sah, war Lambert gegenüber anfangs nicht ohne Mißtrauen; dennoch sprach er sich dahin aus, daß man dem Lambert den Aufenthalt in Eisenach, wo er das Evangelium verkündigen könne, verstatten möge. Luther’s Worte lauten: „Johannes Serranus scheint mir ein guter Mensch zu sein, doch bedürft Ihr meines Rathes nicht. Er scheint die Gesinnung und Natur des Fürsten nicht zu kennen. Man sollte ihn in Eisenach oder an einem anderen Orte dulden, damit er dort diejenigen, welche ihn hören wollen, lehre. Wie wir, so bedarf auch er dessen nicht, daß man ihn unter öffentlichen Schutz nehme. Gott möge ihn wie uns vertheidigen. Nur daß man ihn nicht verjage oder zurücktreibe.“
Aber Lambert war durch solche Erklärungen wenig befriedigt. Sein sehnlichster Wunsch war gleich zu Anfang seiner Flucht ja der gewesen, Luther selbst, den Mann, welcher eine so mächtige Bewegung wie hervorzurufen so auch in Bahn und Schranken zu halten verstand, von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen. Aufs Neue wandte er sich an Spalatin. Luther, der mittlerweile auch schriftstellerische Arbeiten des Mönches eingesehen hatte, gab sein Urtheil nun dahin ab, daß der Kurfürst ein kleines Wegegeld daran hängen und dem Lambert die Reise nach Wittenberg erlauben möge. Dabei empfahl er aber auf das Neue Vorsicht. Am 26. December schrieb er an Spalatin: „Ich lege Dir hier die Briefe an, welche Serranus und Andere mir aus Eisenach gesendet haben. Allerdings werde ich den Mann, wenn er zu mir kommt, um mit mir persönlich zu reden, zulassen; aber sowie die Liebe befiehlt, von Allen das Beste vorauszusetzen (1. Cor. 13), so gebietet auch der Glaube (Matth. 10.: hütet Euch vor den Menschen!), von Allen das Schlimmste zu fürchten. Manches spricht für den Menschen, aber es ist auch Manches, welches meinen Argwohn, wenn auch nicht erregt, so doch auch nicht beschwichtigt. Das Beste also wäre, daß der Fürst ein kleines Wegegeld an ihn wende und es dann zuläßt oder befiehlt, daß er dort bleibe, damit wir sehen, was aus ihm werde. Es ist wahrscheinlich, daß der Satan Alles versuche und alle Künste seiner Gleisnerei aufbiete, weshalb Keinem zu trauen, es sei denn, daß man seiner Sache gewiß geworden sei. Wenn Christus Jemand als Evangelisten zu uns senden will, so wird er uns sicherlich durch vorausgehende oder nachfolgende Zeichen eine Ueberzeugung beibringen.“
Lambert erhielt so endlich die Erlaubniß und die Mittel zur Reise nach Wittenberg. Am 23. Januar schrieb Luther über ihn an Spalatin: „Jener Johannes Serranus, dessen wahrer Name Franz Lambert ist, ist bei uns angekommen. Er ist ein Mann von vornehmer Geburt, hat zwanzig Jahre bei den Minoriten, welche ihm das Geschäft eines apostolischen Predigers übertragen hatten, gelebt, und ist dann wegen über ihn verhängter Verfolgung entflohen und in Armuth gekommen. An der Unbescholtenheit des Mannes ist nicht zu zweiflen; Männer, welche ihn sowohl in Frankreich als in Basel gehört haben, dann aber auch der Baseler Suffragan Tripolitanus und Pellicanus geben ihm das beste Zeugniß. Wiewohl wir nun Ueberfluß an den besten Lehrern haben, so wollen wir ihn doch, wenn er anders tüchtig ist, nicht von uns stoßen. Der Mann gefällt mir in allen Stücken und ich glaube ihn, so weit dieß überhaupt möglich ist, hinlänglich bewährt und würdig gefunden zu haben, daß wir ihn in seiner Verbannung unterstützen und tragen. Aber Du kennst ja meine Vermögensverhältnisse und weißt, daß ich, geschweige ihn unterhalten zu können, selbst von Anderen unterstützt werden muß. Nach meiner Meinung muß man den Fürsten bitten, zwanzig bis dreißig Gulden, nicht um sie zu verlieren, sondern in Liebe für Christus auf Zins zu geben, an ihn zu wenden, bis er von seinen Landsleuten oder durch eigene Arbeit seinen Unterhalt gewinne. Schwerlich wird er, wie ich glaube, da er seines Gleichen oder Meister wohl finden wird, lange hier bleiben. Jedenfalls müssen wir uns über den Verbannten erbarmen.“
Lambert verweilte in Wittenberg über ein Jahr, bis in die zweite Hälfte des Februar oder bis Anfang des März des Jahres 1524. Wie Vieles mochte er dort zu schauen, zu erfahren und namentlich zu lernen haben! Wie sehr mußten aber dort auch die Anforderungen, die er an sich selbst zu stellen hatte, gesteigert werden. Ein Kleiner unter so vielen Großen! Luther gab ihm am Ende seines Wittenberger Lehrjahres das Zeugniß: „Er ist ein Mann, der im Vortrage gesunder Wissenschaft ein Etwas kann und vermag, aber nicht gewachsen unseren Barnabis und Paulis.“
Seine äußere Lage war und blieb eine dürftige. Er war, was seinen Unterhalt betrifft, auf den Kurfürsten und einige Freunde, namentlich Luther selbst angewiesen. An den Kurfürsten schrieb er einmal: „Um Christi willen bitte ich Dich, daß Du Befehl ertheilest, mir eine Hülfe zu gewähren. Ich bin arm und habe nichts, wovon ich lebe.“ Und auf Luther’s Güte wieß er mit den Worten hin: „Denn ich erröthe, daß ich auf Unkosten unseres sehr theuren Luther erhalten werde.“ Letzterer verwandte sich wiederholt für den Flüchtling, so unter dem 25. Februar 1523 in einem Briefe an Spalatin mit den Worten: „Du antwortest nicht darüber, was Du für den Franz Lambert aus Gallien bei dem Fürsten ausgerichtet hast. Jedenfalls ist er ein braver Mann und dazu ein Verbannter. Es fällt uns schwer ihn ganz zu erhalten, schwerer aber noch, ihn zu verlassen. Denn ohne Zweifel ist Christus selbst uns in diesem Armen dargestellt; wenn Du aber nichts für ihn erlangen wirst, so wird Christus den Seinen von anderer Seite her beizuspringen wissen. Ich begehre nicht ein Jahrgehalt für ihn, sondern daß er zeitweilige Unterstützungen empfange, oder wenigstens eine, etwa 10 Gulden.“ Dem Kurfürsten selbst wurde er am Pfingstfeste des genannten Jahres mit einigen vornehmen Franzosen, welche bis dahin in Wittenberg gelebt hatten, zu Lochau vorgestellt. Spalatin, der diese Audienz vermittelte, wurde damals sein Freund und Gönner.
Da Lambert bei seiner Unkenntniß der deutschen Sprache nicht als Prediger auftreten konnte, so suchte er sich auf den Rath Luther’s anderweitige Beschäftigungen und war theils als Lehrer theils schriftstellerisch thätig. Zuerst las er über den Propheten Hosea, sodann über Lucas, Ezechiel und das hohe Lied. Sein Publicum war nicht gerade gering, die Einnahme dagegen sehr gering. So empfing er für seine halbjährigen Vorträge über das Evangelium des Lucas Alles in Allem 15 Groschen.
Die erste Schrift, welche er veröffentlichte, war eine solche, worin er sich selbst und seinen Uebertritt zur Gemeinschaft der Evangelischen rechtfertigte. Sie führt den Titel: Gründe, wegen welcher er die Gemeinschaft und die Kleidung der Minoraten abgethan habe. Leider verbreitet sie sich nicht so ausführlich über die Lebensgeschichte des Verfassers als wünschenswerth wäre. In engem Zusammenhange mit der eben genannten Schrift stand seine zweite: „Erläuterungen über die Regel der Minoriten“, eine Warnungsschrift gegen das Klosterleben, gerichtet zumeist an Mönche und Nonnen und geschrieben mit dem flammenden Zorn und dem seligen Ernste eines solchen, der das Elend und den Sündendienst der Klöster, aber darnach auch die Freiheit eines evangelischen Christmenschen und die allgenugsame Gerechtigkeit des Sohnes Gottes geschmeckt hat. Sein Rathschlag geht dahin, die Klöster allmählig in Erziehungsanstalten umzuwandeln und sofort Allen den Austritt aus denselben zu verstatten. Vorgedruckt sind diesem Buche zwei Empfehlungsbriefe, der eine von Luther, der andere von dem franz. Ritter Anemundus Coctus verfaßt. Als drittes Buch veröffentlichte er einen Commentar zum Propheten Hoseas, dem eine Abhandlung über die Unfreiheit des menschlichen Willens angehängt ist und als viertes einen Commentar zum Evangelium des Lucas. In der Widmungsschrift, an Spalatin gerichtet, sagt er über Entstehung des zuletzt genannten Werkes: „Weiter erbittest Du von mir Erklärungsschriften zum ganzen Lucas, nämlich zum Evangelium und der Apostelgeschichte, weil deren Geschichte eine zusammenhängende sei“ und weiter unten: „Du willst, daß wir, was wir über das erstgenannte Buch, nämlich das Evangelium, beim Vorlesen auf der christl. Academie in Wittenberg aufschrieben, zum gemeinen Nutzen der Gläubigen dem Drucke übergeben. Dein Wille ist mir nun aber Befehl. Nach Deinem Befehle also haben wir selbige Commentare zurecht gemacht und an vielen Stellen gemehrt, damit sie zur Unterrichtung des Volkes desto wirksamer seien. Wir hatten es dabei darauf abgesehen, daß man aus diesem Commentar nicht bloß den Lucas, sondern auch den Matthäus und Marcus und Mehreres aus dem Johannes, Paulus und anderen heiligen Schriften verstehen könne. Weiter hüteten wir uns sorgfältig, daß nichts vom Gifte der Sophisten beigemischt werde, weil sie nicht aus der Weisheit des Fleisches sondern nur aus dem Geiste Gottes verstanden werden können. Den Commentar über die Apostelgeschichte, fügt er hinzu, habe er noch nicht anfertigen können, da ihn der zum hohen Lied und zum Ezechiel zu sehr in Anspruch nehme. Wie wir aus den eben angeführten, im November 1523 geschriebenen Worten sehen, bereitete er in selbigem Winter auch noch einen, später mit einer Vorrede an den König Franz versehenen, Commentar über das hohe Lied vor.
Während Lambert mit rastlosem Fleiße an diesen Werken arbeitete, unterließ er es nun aber nicht auch an die weitere Ausbreitung der Reformation zu denken. Vor Allem faßte er sein Vaterland, Frankreich, in das Auge. Wie von seinem Herzen empfing er dazu mächtige Anregung durch manche Grafen, Ritter und Andere, welche, vom Evangelium angestrahlt, aus Frankreich nach Wittenberg gekommen waren und bei Luther und seinen Mitarbeitern Trost und Rath einholten. Mit um so größerer Hoffnung sahen diese Männer auf das Land jenseits des Rheines, da bereits viele Ohren und Herzen sich daselbst der reinen Lehre geöffnet und in gar manchen Städten, wie Paris, Meaux. u. s. w. Vornehme und Geringe, Geistliche und Laien von der Bewegung ergriffen waren. Daß der Herr in seinem Rathe beschlossen habe, nur sehr langsam und durch die Bluttaufe hindurch dort dem Evangelium Bahn zu brechen, war annoch jedem menschlichen Auge verborgen. Jedenfalls war es Recht und Pflicht, einen Versuch zu machen, dem Vaterlande zu Hülfe zu kommen. – Unter den Landsleuten Lambert’s, welche damals mit so vielen andern Fremden in Wittenberg verweilten, ragten aber namentlich zwei Brüder de Tauro und Anemundus Coctus, Herr zu Chastellar, hervor. Letzterer, früher Rhodiserritter, war ein besonders eifriger und frommer Mann. Er verließ erst im September Wittenberg. Von den beiden Brüdern begab sich der jüngere, Claudius, schon im Frühjahre in seine Heimath zurück.
Solche Männer nun waren es, welche in Gemeinschaft mit Lambert dahin strebten, zunächst wenigstens durch die Presse und namentlich durch Vertreibung von Flugschriften Frankreich nützlich zu werden. Lambert sorgte nicht bloß dafür, daß seine und Anderer lateinische Schriften dahin einen Absatz fänden, sondern war auch darüber aus, passende Tractate in das Französische und Italienische zu übersetzen und drucken zu lassen. Unter dem 14. Juni schrieb er an Spalatin: „Ich habe angefangen Einiges in französischer Sprache herauszugeben, denn von Hamburg sind Nachrichten angekommen, wornach französische Tractate begehrt werden. Man sagt, daß ein dortiger Buchdrucker in dieser Sprache schöne Arbeit liefere und sie dann zu Schiffe nach Frankreich befördere.“ Ein anderes Mal erklärte er, daß er mit Abfassung vieler Schriften beschäftigt sei, welche Claudius de Tauro mit nach Frankreich nehmen wollte. Darunter befand sich auch ein Schreiben an den Parlamentsrath zu Aix. Luther selbst wendete sich damals auf Veranlassung Lambert’s und des Anemundus Coctus in längeren Schreiben an Peter Lizet, den Advocaten des Königs, ja an den Herzog von Savoyen.
Alle diese viele Arbeiten und die ihn noch mehr als Arbeitslast drückende Armuth hielten nun aber Lambert nicht ab, an seine Verheirathung zu denken. Er führt als Grund dafür offen und ehrlich das an, daß er die Gabe der Enthaltsamkeit nicht habe und oft in Bedrängniß des Fleisches sei, welche ihn bisweilen sogar an seinen Studien hinderlich werde. Namentlich in seinem Buche über die Ehe und dem über das hohe Lied rechtfertigte er gründlich und meisterhaft diesen Schritt. Am meisten beruhigte ihn, der doch selbst bei der Neuheit der Sache anfangs mit einiger Furcht drein sah, der Umstand, daß der Kurfürst und Spalatin seine Verheirathung nicht ungünstig aufnahmen, ja einen Wildpretsbraten zur Hochzeit einsendeten. Die erwählte Braut war Christina, eine ehrbare Bäckerstochter aus Herzberg, welche er in dem Hause des berühmten Arztes Augustinus Schurf kennen gelernt hatte. Schon drei Wochen nach der Verlobung wurde, am 13. Juli, die Hochzeit gefeiert. Lambert war der erste französische Mönch, welcher in die Ehe trat. Seine Arbeit über das hohe Lied unternahm er geradezu auf Veranlassung seiner Verheirathung, da einige Freunde mit der Erklärung an ihn herantraten, daß es ein eines jungen Ehegemahls würdiges Unternehmen sei, das hochheilige Geheimniß der Ehe zwischen Christus und seiner Kirche an das Licht zu stellen und der von Christo selbst in seinen Gleichnissen und sonst so hoch gewürdigten Ehe ihre volle Ehre auch vor den Augen der Welt zuzuweisen.
Obwohl nun der junge Ehemann um seiner Familie willen sich mit Freudigkeit neue Opfer und Entbehrungen gefallen ließ, so vermochte er es dennoch auf die Dauer nicht, in Wittenberg auszuharren. Aber nicht bloß die Armuth drückte ihn. Schwerer noch als diese belastete ihn die Erwägung, daß er in der Stadt an der Elbe neben so vielen ausgezeichneten Lehrkräften überflüssig sei und seine Tage fast unnütz zubringe und daß er dagegen an einem anderen Orte vielleicht manche Frucht schaffen könne. Dazu war sein Herz voll heißer Sehnsucht dem Vaterlande zugewendet und alle seine Gebete zielten zumal dahin, daß der Herr diesem die helle Morgenröthe des Evangeliums möge aufgehen lassen. Er wünschte, wenn auch nicht direct nach Frankreich, so doch näher an dessen Grenzen sich begeben zu können und von da aus auf dasselbe einzuwirken.
Anfangs faßte er Zürich in das Auge, von wo aus ihm überdies Einladungen zugekommen zu sein scheinen. Unter dem 14. August 1523 ersuchte Luther den Spalatin, ihm ein Reisegeld bei dem Kurfürsten für diesen Zweck zu erwirken. Nachmals fielen seine Gedanken auf Metz, welche Stadt nicht bloß den Gränzen Frankreichs näher lag, sondern auch selbst einen verheißungsvollen Wirkungskreis darzubieten schien. Auch Luther sah sich für ihn um ein Plätzlein um. An Nic. Gerbellius in Straßburg schrieb er: „Ich bitte also um jenes willen, daß Du mir antwortest, ob ein anständiges und vortheilhaftes Unterkommen, das ihm Unterhalt gewähre, sich bei Euch finde.“ „Er gedenkt in der Nähe Frankreichs durch Uebersetzung meiner Schriften für sich selbst Nahrung, für Andere aber Frucht schaffen zu können. Unser Fürst würdigt ihn bisweilen eines Geldgeschenkes und hat ihm in diesem Jahre 40 Goldgulden geschenkt.“ Lambert selbst schwankte bei seiner Wahl namentlich zwischen Zürich und Metz und gerieth bevor er sich entschied, mehrmals in große Herzensangst. Dreimal und dann, als neue Anfechtungen von Außen kamen, ein viertes Mal nahm er dazu seine Zuflucht, unter Gebet das Loos zu werfen. Dieses entschied jedesmal für Metz. So machte er sich denn, gewiß, daß der Ruf von Gott sei, dahin auf den Weg.
3. Lambert in Metz und Straßburg.
Ueber Straßburg, wo er wahrscheinlich nur einige Tage verweilte, gelangte Lambert noch im März des Jahres 1524 nach Metz. Aus Vorsicht nannte er daselbst seinen Namen nicht. Nur das wurde bekannt, daß er früher ein Mönch gewesen und jetzt aus der Umgebung Luthers komme. Seine Frau war bei ihm.
Aber nur zu bald stellte es sich heraus, daß sich ihm eine Aussicht auf dauernde und erfolgreiche Wirksamkeit hier nicht darbiete. Die reformatorische Bewegung, zunächst von dem berühmten Humanisten und Geheimnißkrämer Cornelius Agrippa von Nettesheim, welcher als Syndicus der Stadt großen Einfluß besaß, angeregt, war nicht nur auf vielfachen Widerspruch gestoßen, sondern wurde auch durch die directesten Gewaltmaßregeln bekämpft. Der Herzog von Lothringen, welchen Lambert als einen von Natur gütigen und sanften Herrn schildert, stand ganz unter dem Einflusse der Geistlichkeit und hatte, gereizt von dieser, bereits ein Edict ausgehenlassen, wodurch die Auslieferung der lutherischen Bücher und die Ueberweisung aller Geistlichen, welche „ketzerische“ Lehre vortrügen, an das Inquisitionsgericht befohlen wurde. Dadurch waren viele Bürger so eingeschüchtert und der Magistrat selbst, in dessen Rathsstuben man früher nicht selten für und gegen die neue Lehre disputirt hatte, so bestürzt gemacht worden, daß Lambert nicht hoffen durfte, in dieser Stadt lange geduldet zu werden. Wirklich ward auch Lambert’s Gesuch, worin er um die Erlaubniß bat, öffentlich predigen zu dürfen, von dem Rathe der Dreizehn alsbald abschlägig beantwortet. Da der wüthende Haufe der Geistlichen, deren sich gegen 900 in der Stadt befanden, bald darauf immer drohender die gefängliche Einziehung „des lutherischen Ketzers“ verlangte und Lambert es nicht für gerechtfertigt hielt, sein Leben muthwillig und ohne alle Aussicht auf Erfolg einzusetzen, so entschloß er sich schon nach ungefähr 14 Tagen die in größter Aufregung befindliche Stadt wieder zu verlassen. Auch hier hatte er eine Reihe von Streitsätzen, 116 an der Zahl, veröffentlicht und sich zu deren Vertheidigung erboten. Er begab sich nun nach Straßburg und trat damit in den Ort ein, an welchem seine schriftstellerische Thätigkeit sich am fruchtbarsten entfalten sollte.
Doch verließ er Metz nicht, ohne dort einen Freund gewonnen zu haben, den er seinen Jonathan nennen durfte und dem er fortan eine rührende und schmerzensvolle Theilnahme schenkte. Es war dieser Mann jener Johann Castellanus, ein Augustinermönch, welcher durch heldenmüthigen Märtyrertod in den Flammen für seinen Glauben Zeugniß ablegte. Als Lambert die Stadt verließ, stand er noch in voller Thätigkeit. Einnehmend und beredt, kühn und fest war er der furchtbarste Gegner der unwissenden und schamlosen Pfaffen und Mönche. Aber annoch schützte ihn die Gunst des Volkes.
In Straßburg fand Lambert freundliche und liebevolle Aufnahme. Der junge Mann mußte sich hier in geistiger Beziehung recht in seinem Elemente fühlen. Es gab keinen zweiten Ort in der Welt, wo eine stattliche und kräftige Bürgerschaft sich so für das Evangelium begeisterte, wo so viele wahrheitssuchende Männer, aus allen Ländern zusammenströmend, so gastliche Aufnahme und so vielfache Anregung erhielten und wo man auf biblischem Grunde mit solcher Kühnheit und Entschiedenheit ein freies kirchliches Verfassungsleben anstrebte. Auch für Lambert’s theologischen Standpunkt mußte diese Stadt vielfach anregend und fördernd sein. Eine freiere Theologie und namentlich eine freiere und biblischere Sacramentslehre hatte daselbst eine Stätte und Vertreter gefunden. Der Schüler Luthers trat hier zum zweiten Mal in eine Schule des Lebens ein.
Fassen wir Straßburg etwas näher in das Auge.
Straßburg war ein uralter Sitz, ja in Deutschland vielleicht der bedeutendste Anhaltspunkt der die Reformation vorbereitenden Secten und namentlich jener ächten deutschen Mystik, welche zur Reformation in demselben Verhältniß steht wie die schöne Blüthe zu der reifen goldenen Frucht. Schon seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts hatten sich in Straßburg die frommen bibelkundigen Waldenser eingefunden und unter Vornehmen und Geringen, Priestern und Laien Proselyten gemacht. Zwar hatte die Inquisition sie oft mit Feuer und Schwert verfolgt und gleich zu Anfang fünfhundert derselben eingezogen, und achtzig, unter denen der bekenntnißmuthige und todesfreudige Priester Johannes selbst sich befand, verbrannt; aber niemals hatte man sie ganz zu vertilgen vermocht. Unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Gesellschaftsformen tauchten sie immer auf das Neue auf und streuten namentlich als Gottesfreunde und Winkler in tiefer Verborgenheit fruchtbringende göttliche Saamenkörner aus. Von einem Gottesfreunde, jenem Nicolaus aus Basel, in die Tiefen des christlichen Lebens und der christlichen Erkenntniß eingeführt, wirkte dann in Straßburg mit wunderbarer Macht über die Gemüther und deshalb mit großartigem Erfolge der gottinnige Johannes Tauler, der Lehrmeister Luther’s, der Wiedererwecker der deutschen Predigt, wirkten dessen Freunde und Schüler, Johann von Dambach, Egenolph von Ehenheim und Dietrich von Colmar. Die deutsche Theologie, neben Tauler’s Predigten das Lieblingsbuch Luther’s, hatte ebenfalls gerade in Straßburg mit anderen dort selbst erzeugten herrlichen mystischen Producten weite Verbreitung und großen Beifall gefunden. In diesen letzten Tagen aber erst hatte dort Sebastian Brandt gelebt und geschrieben, hatte der gelehrte Humanist Wimpheling die Kinder der vornehmen Bürger unterrichtet und wider seinen Willen den neuen Ideen zugeführt, hatte der freimüthige, beredte und sittenstrenge Doctor Geiler von Kaisersberg, fast angebetet von dem Volke, auf einer für deutsche Predigt eigends gestifteten Kanzel den Aberglauben, die Unsitte und das gottlose Treiben der mittlerischen Priester gegeisselt und auf Christum und sein alleiniges Verdienst hingewiesen. Ebenso wie durch seine religiöse Vergangenheit ward Straßburg aber auch durch seine Lage, das ganze Sein und Leben seiner Bürger und die Begünstigungen, welche seine treffliche Staatsverfassung gewährten, auf die Reformation hingewiesen.
Groß und prächtig streckte sich die regsame Stadt an der Grenze dreier mächtigen Reiche, von denen sie die verschiedenartigsten Anregungen empfing, an dem schiffbaren Rhein dahin. In fortwährend steigender Blüthe begriffene Gewerke und ausgebreiteter Handel hatten ihre Bürger reich und strebsam gemacht und mit Muth und Selbstgefühl erfüllt. Durch die zahlreichen dasigen Druckerwerkstätten und deren Producte aber waren alle Classen des Volkes, jede in ihrer Weise, literarisch angeregt. Uebersetzungen der deutschen Bibel und römische und griechische Classiker waren schon im vorigen Jahrhundert in Straßburg vielfach aufgelegt worden, jetzt wurden nun auch die Bücher Luther’s und seiner Freunde häufig gedruckt und verbreitet. In der Verfassung war ebensosehr dem Princip der Stetigkeit als dem der Beweglichkeit Rechnung getragen und ebensowohl den vielen reichen Adeligen, welche in der Stadt sich niedergelassen hatten und zur Verfeinerung der Sitten und Belebung eines ritterlichen Sinnes nicht wenig beitrugen, als den Bürgerlichen, und wieder ebensowohl den patrizischen Geschlechtern der Bürger als den schlichten Handwerksleuten eine entsprechende Betheiligung an der Regierung ermöglicht und garantirt. Man kann sagen, daß in der Straßburger Verfassung demokratische, aristokratische und monarchische Elemente in der glücklichsten Weise combinirt waren. Und die Männer, welche an der Spitze dieses Staatswesens standen, waren durchgängig die trefflichsten, hervorragend sowohl durch Rechtlichkeit und Weisheit als durch reiche Erfahrung und wissenschaftliche Bildung. Der Mann, welcher damals die oberste Leitung der Republik in seiner Hand hatte, der Stättemeister Jakob Sturm von Sturmeck ist vielleicht sogar die edelste und schönste Erscheinung des ganzen Reformationszeitalters. Ein aufopferungsvoller und freigebiger, frommer und beredter, gelehrter und thatkräftiger Herr, wie sie selten geboren werden, erhob er in kurzer Zeit den Straßburger Staat auf den höchsten Punkt seiner Blüthe und Machtentwicklung.
Als Lambert in Straßburg anlangte, war die Reformation daselbst bereits zum Durchbruche gekommen. Eröffnet war die Bewegung worden durch Symphorian Pollio, den Carmeliter Tilman von Lyn und namentlich durch Matthäus Zell. Letzterer, ein sittlich-ernster, freimüthiger und wenn auch nicht gelehrter, doch wohl unterrichteter glaubensfester Prediger am Münster, hatte zuerst mit nachhaltigem Erfolge das Evangelium gepredigt. Geschützt durch das Volk und das zögernde Eingreifen des Magistrats hatte er sich trotz der Angriffe der Stiftsherrn in seiner Stelle behauptet. Als man ihm die Kanzel Geiler’s verschloß, baute das Volk ihm eine hölzerne, tragbare Kanzel. Ihm zur Seite traten später zwei mit allen Waffen protestantischer Wissenschaft ausgerüstete Männer. Der eine war Caspar Hedio, theol. Dr., ein sanfter und besonnener Mann, vorher Hofprediger des Kurfürsten von Mainz. Der andere war Wolfgang Fabricius Capito, ein gelehrter, in allen drei höheren Facultäten promovirter und welterfahrener Herr. Er hatte vor Kurzem von dem Mainzer Hofe, wo er die Stelle eines kurfürstlichen Kanzlers lange Zeit versehen, sich zurückgezogen und lebte nun als Propst am Straßburger Thomasstifte. Zuletzt war zu diesen Männern noch Martin Bucer hinzugekommen, der bald das Haupt der reformatorischen Partei wurde. Er war nicht nur gelehrt und gewandt, sittenrein und voll Begeisterung, sondern nahm als Kirchenpractiker sogar unter allen deutschen Reformatoren geradezu die erste Stelle ein.
Man kann es voraussetzen, daß Lambert in einer so frischen und regsamen und frommen Umgebung sich geistig wohl befand. Aus sieben Gedichten, welche er Psalmen überschrieben hat und die er bald nach seiner Ankunft in Straßburg abfaßte, leuchtet dieses nun aber auch recht klar hervor. Schon der Umstand, daß er hier nicht so wie in Wittenberg gegen die andern Persönlichkeiten in Schatten trat, mußte sein Gefühl des Wohlbehagens vermehren und ihn zu neuer Thätigkeit anspornen.
Von ihrer äußern Seite betrachtet war allerdings seine Stellung auch in Straßburg eine höchst dürftige. Da er wegen seiner Unkenntniß der deutschen Sprache nicht zu einem Predigtamte gelangen konnte, mußte er von der Schriftstellerei, seinen Vorlesungen und von Unterstützungen, die ihm gereicht wurden, leben. Er scheint fortwährend mit großer Noth zu kämpfen gehabt zu haben. Vom Magistrate erhielt er in Folge einer an denselben gerichteten Bittschrift seit dem November des Jahres 1524 eine wöchentliche Unterstützung. Gleichzeitig wurde er damals mit dem Bürgerrechte beschenkt. Einer seiner Hauptgönner scheint der Domdechant, Graf Sigismund von Hohenlohe, gewesen zu sein.
Seine Vorlesungen eröffnete er mit Erklärung des Propheten Ezechiel und ließ dann die der drei ersten Briefe des Apostel Paulus folgen. Auch über die Offenbarung Johannis und den Daniel las er.
Belangreicher war seine schriftstellerische Thätigkeit. Sein Zutrauen zu seinem Talent, namentlich dem einer klaren Auffassung und lebendigen Darstellung und die damit gegebene Lust, sowie die äußere Noth, in der er sich fortwährend befand, bewirkten, daß er mit dem größten Fleiße der Bücherschreiberei oblag. Auch ist in seinen Schriften offenbar ein Fortschritt wahrzunehmen. Man bemerkt mit Freude, daß sein Gesichtskreis und damit seine Ideen sich erweitert haben, daß seine Kenntnisse sich vermehrt und daß er gründlicher arbeitet.
Zuerst, und zwar bald nach seiner Ankunft, veröffentlichte er seinen Tractat über die heilige Ehe. Er schrieb ihn, um damit eben sowohl seine eigene Ehe als die der Straßburger Geistlichen, von denen mehrere sich eben verheirathet hatten, vor der Welt und gegenüber den frechen Angriffen der Pfaffen zu rechtfertigen. Es liefert dieses Buch nicht bloß eine glänzende und gründliche Rechtfertigung der Priesterehe, sondern ist zugleich eine gedankenvolle Exposition über die Ehe, ihre Pflichten und Rechte überhaupt. Mit besonderem Glück vertheidigt er darin auch den Eintritt der Armen in die Ehe und weist mit Nachdruck nach, wie sittlich hoch auch der ärmste verheirathete Priester solchen Geistlichen gegenüberstehe, die auch nur innerlich der Unkeuschheit huldigten. Das Buch verdiente noch heute gelesen zu werden. Seine Zeitgenossen haben es freundlich aufgenommen und es trug nicht am wenigsten mit dazu bei, daß Lambert’s Name weithin bekannt wurde. Es ist auch in das Deutsche übersetzt.
Ebenfalls noch im Jahre 1524 veröffentlichte er seine bereits oben erwähnten Vorlesungen über das hohe Lied und ein Buch über die Ursachen der Blindheit so vieler Jahrhunderte.
In den Jahren 1525 und 26 erschienen von ihm eine Sammlung seiner Streitsätze, ein Buch über die Berufung der Gläubigen zum Reiche Christi, in mehreren Bänden die Fortsetzung und der Schluß seines Commentares über die kleinen Propheten, in einem Bande zusammen eine Schrift „über die Prophetie, Gelehrsamkeit und Sprachen und über Buchstabe und Geist“ und eine andere „über den Unterschied des satanischen Fleischesreizes und des Brennens“ und endlich ein Commentar zu den 4 Büchern der Könige und der Apostelgeschichte.
An den Kämpfen mit den römischen Gegnern in Straßburg scheint der lebhafte Mann regen Antheil genommen zu haben. Unter Anderem stritt er öffentlich, jedesmal vor Beginn seiner Vorlesungen, gegen Thomas Murner. Dieser war neben Fischart der bedeutendste Satiriker seiner Zeit, aber nicht wie dieser eine sittliche Natur, sondern ein Musterbild der Frechheit, der Schaamlosigkeit und des gottlosesten Ehrgeizes.
Auch gegen Conrad Treger, Provinzial der Augustiner, welcher 100 Streitsätze veröffentlicht und zu deren Verteidigung sich erboten hatte, sodann aber zu entfliehen suchte, wendete er seine Waffen. Die Sammlung der Streitsätze, 385 an der Zahl, gab er ihm gegenüber heraus. Mit besonderer Aufmerksamkeit schaute er der Entwicklung der Dinge in Metz zu. Aber er vernahm zunächst nur höchst Betrübendes. Johannes Castellanus, sein Freund, und Vedastus, ein anderer Prediger des Evangeliums waren unter Anwendung von List und Betrug in Gefangenschaft gebracht worden und wurden nunmehr von dem geistlichen Gerichte mit dem Tode bedroht. Lambert that zwar Alles, was ein schwacher Mensch in seiner Lage für einen fernen Freund thun kann, aber ohne allen Erfolg. Weder seine Briefe an den Magistrat von Metz, noch die Zuschriften an den Herzog von Lothringen und Andere, worin er flehentlich um Loslassung seines Freundes bat und sich erbot, bei Zusicherung freien Geleites in Metz zu predigen und die Sache des Evangeliums öffentlich gegen alle Cleriker zu vertheidigen, vermochten die Lage des Castellanus zu verbessern. Nach neunmonatlicher Gefangenschaft wurde dieser dem Feuer übergeben und starb eines seligen und herrlichen Todes. Lambert ward von diesem Ereigniß auf das Tiefste ergriffen. In heiligem Schmerze feierte er das Andenken seines Freundes in mehrfachen Beschreibungen seines Lebens und Leidens, zuerst im fünften Capitel der Farrago und sodann in seiner Vorrede zum Propheten Hoseas. Freudig bewegen mußte es dagegen Lambert, als er hörte, daß mit der Stimme des Castellanus nicht auch die Reformation erstickt sei. Die Metzer Bürger, von tiefer Trauer ergriffen, traten nun offener hervor. Vedastus, der bald darauf den Flammen übergeben werden sollte, ward, da einige Tausende sein Gefängniß zu erstürmen wagten, gerettet und durfte sich nach Straßburg zu Lambert, der ihm trotz seiner eigenen Armuth ein Asyl darbot, flüchten. Statt dieses aber traten im Juni 1525 neue Kämpfer für die gute Sache auf den Schauplatz: Farel, der nachher ein gewaltiger und muthiger Bahnbrecher der reformatorischen Sache in der Schweiz wurde, Peter Tossanus, ein junger und eifriger Chorherr am Münster zu Metz, früher um des Evangeliums willen flüchtig, und, aus Deutschland mit diesem anlangend, ein Ritter von Esch. Peter Tossanus begehrte von dem Rathe der Dreizehn, daß man sie höre. Als sie von diesem abschläglich beschieden wurden, wendeten sie sich mit einer Appellation an den Syndicus. Unter den Bürgern selbst erhob sich damals eine neue heftige Bewegung. Aber auch die Gegner der Reformation feierten nicht. Sie bedrohten die Reformatoren mit dem Tode. In dieser Zeit und auf solche Veranlassung hin wendete sich Lambert nun abermals an Antonius von Lothringen. Er that dieses in einem Schreiben, welches er seinem Commentar über den Amos, Obadja und Jonas vorsetzte. Mit Freimuth und Ernst erinnerte er den Fürsten an seine heilige Pflicht, für den Glauben einzutreten, und wies darauf hin, daß die von den Reformatoren vorgetragene Lehre mit der heiligen Schrift, mit Christus, den Aposteln und der ganzen alten Kirche stimmte und daß die Gegner für alle ihre Anklagen noch kein einziges stichhaltiges Zeugniß der heiligen Schrift aufzubringen vermocht hätten. Sehr entschieden warnte er den Fürsten vor seinen heuchlerischen und grausamen Rathgebern und sprach seine ganze Entrüstung aus über den Inbalt des letzten Religionsedictes. Er meinte, dasselbe sei so blutdürstig und unmenschlich, daß auch ein Nero und Diocletianus nichts Grausameres hervorgebracht hätten und daß es unerhörte Frechheit sei, wenn der Ausschreiber diese Gesetze damit zu begründen wage, daß es so sein „Wille und Wohlgefallen“ sei.
Vor Allem faßte er sein Vaterland, Frankreich, in das Auge. Er scheint in dieser Richtung, sich nicht minder über die Bedeutung seiner Persönlichkeit als über die Richtung des Königs und die religiösen und socialen Verhältnisse Frankreichs täuschend, fast schwärmerische und jedenfalls sehr überschwängliche Erwartungen gehegt zu haben. Für Frankreich ein Luther zu werden, das war das Ziel, welchem er zustrebte. Zunächst war er darüber aus, den König Franz I. für die von ihm vertretene Sache zu gewinnen. Da ein Bote, den er mit einem Briefe und Büchern von Metz aus an den König abgesendet hatte, aufgefangen worden war, so versuchte er es jetzt durch Zusendung seines Tractates von der Ehe und eine diesem vorgesetzte Zuschrift auf den König einzuwirken. Diese Zuschrift war mit Freimuth und nicht ohne Derbheit abgefaßt, aber blieb wahrscheinlich schon darum ohne allen Erfolg, weil sie schwerlich an Franz I. gelangte. In warmer Sprache stellte er ihm darin bald das Gericht vor Augen, welches alle Feinde der Wahrheit bedrohe, bald wies er ihn hin auf den Zuwachs an Macht, den das Königthum bei Niederwerfung der Bischöfe gewinnen werde, bald erinnerte er an die mannigfache Schmach, welche der jetzige wie die früheren Päpste den Königen angethan hätten. Auch das entwickelte er, wie bei Einführung des reinen Gotteswortes die Unterthanen an Gehorsam und so das Reich an innerer Kraft wachsen würden. Besonders suchte er den König dahin zu bestimmen, daß er sich Avignons und der Grafschaft Venaissain annehme und dort dem Evangelium, sei es auch unter Anwendung von Gewaltmaßregeln, Bahn breche. Bald darauf dedicirte er demselben Monarchen ein anderes Buch, den Commentar über das hohe Lied. Auch hier suchte er nicht am wenigsten dadurch Interesse für die Reformation bei dem Könige zu erwecken, daß er ihm die politischen Vortheile, welche sich an die Einführung des Volkes in die Wahrheit anschließen würden, vor die Augen stellte. Doch unterließ er nicht, auch mit Anderem und namentlich mit Vorführung der starken göttlichen Argumente seinen Antrag zu stützen und seinen Begründungen und Ermahnungen flehentliche Bitten hinzuzufügen. So sagte er unter Anderem: „Ich ein armer Sünder, ich bitte Dich um Jesu Christi, und der vielen Auserwählten willen, die in Deinem Lande sind, laß ihnen die Vorratskammern der einzigen reinen Seelenfreude nicht verschlossen sein. Denn es sind Viele in Frankreich, welche die Wahrheit erkennen und besitzen, aber die Bischöfe und Mönche, die Observanten vor Allen, verschließen ihnen den Mund. Siehe, was die Gläubigen Deines Reiches begehren, und ich mit ihnen, das ist heilig, nothwendig, von Gott geboten. Du kannst es nicht verweigern und Du wirst es nicht thun. Erbarme, o erbarme Dich Deines Volkes, großmächtigster König, und gib ihm Lehrer der Wahrheit und Gerechtigkeit.“ Erfolgreicher als solche Zuschriften an den vielbeschäftigen und eitlen König oder Andere waren jedenfalls andere Mittel, welche Lambert für die Evangelisation Frankreichs zur Anwendung brachte. So nahm er darauf Bedacht, sein Vaterland mit anregenden Büchern zu versehen. Mit Vedastus übersetzte und verbreitete er viele deutsche Reformationsschriften. Das Buch, welches er „über die Ursache der Blindheit so vieler Jahrhunderte“ schrieb, hat er wahrscheinlich sogar mit besonderer Rücksichtnahme auf Frankreich verfaßt. Es erschien gleichzeitig in lateinischer und französischer Sprache. Sehr unterstützt oder doch ermuntert wurde er bei Verfolgung dieser seiner Pläne theils durch die Straßburger Theologen, wie z. B. Martin Bucer, welche mannigfache Verbindungen mit Frankreich unterhielten, theils durch Landesleute, welche längere oder kürzere Zeit in der schönen großen Grenzstadt verweilten. Daß man aber nicht immer die Art seines Auftretens billigte, versteht sich von selbst. Peter Tossanus schrieb einmal an Farel, daß er doch verhindern möge, daß Lambert keine so tollen Briefe mehr schreibe, und bezog sich damit wahrscheinlich auf seine Zuschrift an den Herzog von Lothringen und eine Vorrede vor seinem Commentar über Micha, Nahum und Habacuc, worin er den Magistrat von Besançon in stürmischer Weise zur Einführung der Reformation aufforderte.
Uebrigens übersah Lambert auch die französische Schweiz nicht ganz. Ein feuriger und beweglicher Mensch, suchte er überall Anknüpfungspunkte. Wir theilen im Folgenden aus einem der dorthin gerichteten Briefe einiges mit. Es ist aus der Epistel entnommen, welche er seiner Sammlung von Streitsätzen beigab und an jenen Bischof von Lausanne richtete, dessen Bekanntschaft er bei seiner Durchreise durch jene Stadt vor drei Jahren gemacht hatte. Es war darin unter Anderem gesagt: „Auch kann ich Ew. Herrlichkeit nicht mit Wahrheit einen Bischof nennen, wenn ich Sie nicht beschimpfen und gegen mein Gewissen handeln will. Für einen Fürsten kann ich Ew. Herrlichkeit halten, aber nicht für einen Bischof, dieweil Sie das Evangelium nicht verkündigt. Es ist ein Schimpf für einen Fürsten, wenn man ihn einen Bischof nennt, denn was heißt das Anderes als: hier ist ein christlicher Prediger, der beständig das Wort treibt, der vollkommne Kenntniß der heiligen Schrift besitzt, der demüthig, gastfreundlich ist, und der für seine Person in Beobachtung der Gebote des Evangeliums das Beispiel gibt, nicht Anderes kennt als das Lesen und Erklären der heiligen Schrift. Wenn nun aber von dem Allen keine Spur vorhanden ist? Es mag Ew. Herrlichkeit einen Bischof nennen, wer da will, ich nicht. Dafür möge Sie sorgen, daß Sie wahrhafte Bischöfe unter sich habe. Denn eine jede einzelne Pfarrei soll einen Bischof haben, welcher, wenn er vom Volke gewählt und von der Gemeinde irgend eines Ortes bestätigt worden, weder Briefe noch Siegel bedarf, und so lange für einen Bischof zu halten ist, als er das reine Evangelium vom Reiche Gottes verkündigt. Weicht er davon ab, so kann ihn die Gemeinde, welche ihn gewählt, entsetzen und einen anderen suchen.“ „Befindet sich wohl ein Einziger unter denen, die wissen, was Christi Lehre ist, und der dennoch spräche: ich gehöre Luthern an? Luther ist ein Mensch, aber wenn das was Luther oder eiu Anderer sagt, göttliche Wahrheit ist, wie sollten wir nicht dem beifallen, was der heilige Geist, durch Luthern, uns geoffenbaret hat? Weder Luther noch seine Schriften haben mich gelehrt, was ich in der heiligen Schrift erkannt, wiewohl ich Luthern erkenne und bekenne, daß ich in seinem Umgang nicht wenig gelernt habe. Ich bin gewiß, daß er ein Apostel, ein Engel Gottes ist, das heißt: von Gott gesandt. Denn es wäre unmöglich, daß er solche Schriften, voll göttlicher Wahrheit, hätte verfassen können, wenn er nicht von Gott dazu gesandt wäre. Und so wie das was Paulus schrieb nicht verdammlich ist, deßwegen weil Paulus ein Mensch war, eben so wenig ist das, was Luther geschrieben verdammlich, weil Luther ein Mensch ist.“ „Verweigerst Du aber deinem Volke das Wort Gottes, so soll es Dir nicht gehorsamen; denn wenn sie Christi Schaafe sind, so wollen sie auch auf Christi Weide gehen. Es können daher alle gläubige Völker sagen, ja sie sollen sich dazu verbinden und sprechen: Wir wollen das Wort unseres Gottes hören, wir wollen nichts wissen weder von den Decreten und Satzungen des Papstes, noch von den Zänkereien der Sophisten! Verweigern dieß Fürsten und Obrigkeit, die doch selber für christgläubig gehalten sein wollen, so können sich die Völker geradezu ihrer Oberherrlichkeit entziehen. Denn die Völker sind gehalten in allen Stücken dem Fürsten oder sonstiger Obrigkeit sich zu fügen, ausgenommen in dem was gegen Gottes Wort ist, und darin, daß sie Gottes Wort nicht hören sollen.“ Indem er aber sich für einen wegen Eintritts in die Ehe von dem Bischof eingekerkerten Geistlichen verwendete, sprach Lambert Folgendes: „Siehe wohl zu, daß Du nicht von irgend Jemand Dich allzu leicht verleiten lassest, denn mit deiner Seele mußt Du bezahlen die Seele jenes Mannes, welcher einen nothwendigen, und wie ich in der Schrift von der Ehe an Franz I. hinlänglich bewiesen habe, einen frommen Schritt gethan hat. Denn auch ich bin ehelich geworden, die Synagoge Satans mag nun toben wie sie will. Gott befiehlt die Ehe allen denen, die im Geiste nicht keusch bleiben können, der Papst verbietet sie und macht eitel Heuchler. Wem soll man gehorchen? Gott hat keinen Unterschied gemacht zwischen Geistlichen und Laien, der Befehl ist allgemein, und geht jeglichen Stand an, und wenn Ew. fürstliche Hoheit der Frömmigkeit Gehör geben will, so wird Ew. fürstliche Hoheit selbst ehelich werden und durch Ihr Beispiel die Gräuel zerstören helfen, welche durch die Ehelosigkeit entstanden sind.“
Während nun aber Lambert, für Frankreich arbeitend und an Franzosen bittende und bedrohende Briefe richtend, für den Westen einen göttlichen Beruf zu haben meinte, stellte es sich heraus, daß Gott der Herr beschlossen hatte, ihn im Osten, und zwar in der Mitte Deutschlands, in Hessen, zu gebrauchen. Wahrscheinlich noch während des Reichstages zu Speier erhielt er einen Ruf von Landgraf Philipp dem Großmüthigen von Hessen, der sich eben mit ganzer Klarheit und Festigkeit des Willens für die Einführung der Reformation in seinem Lande entschieden hatte. Er scheint diesem von Melanchthon empfohlen worden zu sein. Es stand nun Lambert ein großes und schönes Arbeitsfeld offen!
Wahrscheinlich ging Lambert mit ganzer Freudigkeit des Herzens auf den empfangenen Ruf ein. Wie anregend die Verhältnisse in Straßburg auch für ihn waren, so hatte er bis dahin doch gerade das dort nicht erreicht, was er anstrebte, nämlich ein bestimmtes Amt in der Kirche oder doch für die Kirche. Und ob er Grund zur Hoffnung hatte, ein solches bald oder jemals in Straßburg zu erlangen? Jedenfalls war die Stimmung in der letzten Zeit ihm nicht günstiger, sondern ungünstiger geworden. Obwohl er manchen vornehmen und angesehenen Gönner zählte und Viele unter dem Volke den „Wälschen Doctor“ wohl leiden mochten, so war seine Anwesenheit und seine und der Seinigen Haltung doch den Meisten nicht sehr genehm. Die ordnungsmäßigen und ehrsamen Bürger der freien Reichsstadt nahmen vielfach Anstoß an seiner „Wälschen Haushaltung“ und seinem „protzigen Thun.“ Unter dem 17. Juli 1525 findet sich in dem Protocolle des Rathes und der Einundzwanzig die Bemerkung eingetragen: Item daß die Burger murren, daß man D. Francisco Lamberto fünfzig Gl. Jars gibt, er und sin Frau ein ungebürlichs Wesen tribt und er demselben vß dem streych dritt (sic!).“ Unter den Gebildeten hatte er manche Gegner wegen seiner Unverträglichkeit. Vermochte er doch selbst mit seinem Landsmann Farel nicht immer gut auszukommen! Die meisten Gegner aber zählte er unter den Gelehrten. Diesen war sein ganzes Gebahren mannigfach zuwider und namentlich die Lebhaftigkeit und der fast revolutionäre Ton womit er in seinen Vorreden und Briefen Städte, Fürsten und Völker aufrief. Selbst gegen seine Commentare, die er mit einer gewissen Eilfertigkeit in die Welt hinaussendete, machten sich unter ihnen mancherlei Bedenken geltend und als er dann gar seine Schriftstellerei durch eine Art „Theologie der Thatsachen,“ nämlich durch sein Buch „über die Gelehrsamkeit und Sprachen u. s. w.“ zu rechtfertigen versuchte, verdarb er es vollends mit den Meisten. Manche singen an, ihn als einen Gegner der wissenschaftlichen Theologie und der Wissenschaft überhaupt anzusehen. Sein Freund Nie. Gerbellius schrieb an Melanchthon: „Ich fasse die Hoffnung, daß die Studien wieder aufleben werden, welche die gottlose Frömmigkeit gewisser Leute zu verdammen wagt, unter denen jetzt jener Franziscaner Lambert unbesonnen ras’t.“ Auch der Magistrat wurde bedenklich und ließ ihn ermahnen, hinfort nichts ohne vorhergehende Einholung seiner Einwilligung drucken zu lassen. Dennoch hatte er auch in dieser Zeit wenigstens einige Hoffnung an der neuen Schule, deren Errichtung man in Aussicht genommen hatte, angestellt zu werden. Ein Beschluß des Rathes weist darauf hin. Aber wenn es nun auch Lambert gelungen wäre, in Straßburg ein Amt zu finden, mußte er es nicht herausfühlen, daß man seiner in Straßburg jedenfalls nicht bedurfte und daß er unter allen Umständen neben den bedeutenden Männern, in deren Besitz diese Stadt war, nur eine untergeordnete Stellung einnehmen könnte? Nun kam aber noch hinzu, daß auch seine finanziellen Verhältnisse fortwährend sehr traurige waren und er in drückender Armuth lebte. Noch unter dem 13. Januar 1526 sah er sich genöthigt in einer Supplik an den Rath seine große Armuth vorzustellen. Gerade aus der Antwort, welche der Senat damals an ihn ergehen ließ, erkennt man die Situation, in der sich Lambert damals befand, recht klar. Im Rathsprotocolle (post Erhardi 1526) findet sich nämlich die Bemerkung: „D. Franciscus Lampertu8 bringt ein büchlin, darin er vber die vier letzten Propheten geschryben, so er M. M. G. H. als ein kleine gab, für benutzen guttat M. M. G. H. geben will, bit und supplicirt unb wytter vnder haltung. Erkannt: daß die beden Herrn so vormals mit den Herrn zu St. Johann und den Carthausern gehandlet, fründlich reden sollen jn noch 1 Jar zu underhalten; und D. Franoisoo sagen, daß er sich darnach versehe, wo aber er das nit thun will oder kan, ja nit laßen hunger sterben, sondern vß den klöstern erhalten, damit, ob man zur uffrichtung der schulen sin bedurft, man jn by handen hätt; darzu auch sagen, daß er dank, und nichts laß drucken oder vßgeben, es sye jm dann zugelaßen und zuvor besehen.“
Mußte sich Lambert unter solchen Umständen nicht gedrungen fühlen, dem ehrenvollen Rufe des Landgrafen von Hessen alsbald Gehör zu geben?
4. Lamberts theologische und Kirchliche Richtung und Anschauung.
Es wird angemessen sein, wenn wir hier etwas näher auf Lambert’s theologische und kirchliche Richtung und Anschauung einzugehen den Versuch machen. Nur von dem so gewonnenen Standpunkte aus wird es uns möglich sein, das Handeln, mit welchem Lambert auf dem neuen und großen Schauplatze seiner Wirksamkeit hervortrat, recht zu verstehen und zu würdigen.
Lambert war in dieser Zeit weder der lutherischen noch der zwinglischen Theologie mit ganzer Entschiedenheit und Klarheit zugethan. So stand er aber nicht nur darum, weil es in den dreißiger Jahren systematisch ausgebildete Gegensätze dieser Art noch nicht gab, sondern auch deßhalb, weil er sowohl unter lutherischen als oberländischen Einflüssen sich herangebildet hatte. In jenen dreißiger Jahren war überhaupt weder eine lutherische noch eine reformirte Theologie in unserem heutigen Sinne vorhanden. Diese war das Product späterer Kämpfe und trat selbst wieder in sehr verschiedenen Entwicklungsstufen, in einer anderen nach 1530 und in einer anderen seit 1560 an den Tag. In der Zeit, wovon wir reden, waren die Gegensätze viel größer als später, aber um Vieles flüssiger; ferner waren die Unterschiede zwar mannigfacher als nachher, aber es wurden dennoch nicht so viele betont und zum Gegenstande des Streites gemacht und andererseits traten später, und namentlich in Folge von Consequenzmacherei, viele confessionelle Unterschiede erst hervor, an die man anfangs gar nicht gedacht hatte. Selbst in Bezug auf die Prädestinationslehre waltete damals noch kein Unterschied zwischen lutherischen und reformirten Theologen. Beide behandelten sie in derselben Weise und betonten sie gleich stark. Sie wurde auch in der lutherischen Dogmatik nicht durch Luther sondern durch Melanchthon zurückgedrängt und sodann gerade von den Männern völlig ausgemerzt, welche gegen Melanchthon ansonsten die heftigste Opposition machten. Auf Lambert wirkte die damalige Wittenberger Theologie nun aber um so mehr ein, da sie nicht nur in einer Zeit an ihn herantrat, worin er an eigenen Anschauungen und Forschungen noch sehr arm war, sondern sie auch von einem Mann vertreten wurde, dessen übermächtigen Persönlichkeit der empfängliche und lebhafte Franzose am wenigsten Widerstand zu leisten vermochte. Freier stellte sich Lambert erst zu Straßburg. Aber gerade über die Abendmahlslehre, den Brennpunkt des damaligen Streites, konnte er auch zu Straßburg zu keiner klaren Entscheidung kommen und erst in Folge des Marburger Colloquiums entschied er sich gegen Luther. Daß er in vielen Fragen der Kirchenverfassung und des Cultus den oberländischen Ansichten beipflichtete, wurde theils wohl durch den Einfluß der Straßburger Theologen, theils aber und namentlich dadurch bedingt, daß er überall auf das Wort der heiligen Schrift zurückzugehen liebte und daß seiner innersten Geistesrichtung die reformirten Anschauungen am meisten zusagte. Wenn seine Ansichten über Kirchenverfassung von der der lutherischen Kirche sehr abwichen, so hat dieses seinen Grund sogar durchaus nicht in einer principiellen Differenz, sondern nur darin, daß Luther nach der Abreise Lambert’s von Wittenberg seine Ansichten änderte, oder vielmehr der Wucht geschichtlicher und anderweitig gegebener Verhältnisse erlag.
Am meisten charakterisirt sich Lambert’s theologische und kirchliche Anschauung theils dadurch, daß er nur das göttliche Wort als Norm für Alles angesehen wissen wollte, theils dadurch, daß er in eigenthümlicher Weise eine Geisteskirche der veräußerlichten Papstkirche gegenüber stellte. Jenes unbedingte Halten an dem göttlichen Worte und damit verbunden eine völlige Gleichstellung des A. und des N. Testamentes führte ihn zu alttestamentlich theokratischen Anschauungen und zu radicaler Verwerfung aller gegebenen kirchlichen Ordnungen. Dieses Betonen des prophetischen Elementes in den Gläubigen aber führte ihn dahin, daß er die wirklich existirende und in der Heranbildung begriffene Gemeinde mit der idealen Gemeinde verwechselte und bei den kirchlichen Organisationen die „hellen Haufen“ wie Gemeinden bekehrter Christen behandelt wissen wollte. Wieder vorige Gesichtspunkt, so mußte ihn aber auch dieser zu radicaler Opposition vortreiben. Statt einer Reformation faßte er eine Neubildung der Kirche in das Auge. Nicht selten ließ sich der übeischwängliche ungeduldige Franzose, dem das Reformationswerk nicht rasch genug voranging, sogar dazu fortreißen, geradezu revolutionäre Grundsätze auszusprechen und zu proclamiren.
Die Grundsätze, worauf Lambert seine Lehre von der Kirchenverfassung baute, waren der Hauptsache nach folgende: Alle Gläubige, Männer und Frauen, sind Priester. Es gibt zwei Aemter, das der Bischöfe oder Presbyter und das der Diaconen. Jene entsprechen den alttestamentlichen Priestern, diese den Leviten.) Die Diaconen haben die Armenpfiege. Die Handhabung der Kirchenzucht und des Kirchenregimentes, sowie die Wahl der Bischöfe steht der Gemeinde zu. „Es ist nothwendig, daß diejenigen, welche für die Anderen dem Worte Gottes vorstehen, auch von diesen Anderen gewählt werden.“ Auch kommt es der Gemeinde zu, darüber zu urtheilen, ob die Worte der Lehre aus Gott sind. „Die Berufung der Diener ist zweierlei Art, nämlich eine innere, durch den Geist Gottes und eine äußerliche, nach vorgeschriebener festgesetzter Ordnung. Alle Menschen können diese äußere Berufung haben, die innere aber nur die, denen es Gott gegeben hat. Ohne dieselbe ist jede äußere Vocation nichtig, ist auch jegliche Berufung zu einem Kirchenamte nichtig.“ „Welches ist nun aber das entscheidende Kennzeichen jener inneren, für jeden Lehrer nothwendigen Berufung? Dieses: wenn man nicht wünscht wohl zu leben, sich nicht von Anderen gern Doctor nennen läßt, sondern wenn man sehnlichst ein wahrhaft gutes Werk zu thun begehrt, zu wachen und zu sorgen für das Volk des Herrn mit der größten Emsigkeit und Liebe, so daß man eher zu sterben bereit ist, oder sonst, was es auch sei, erdulde, als von der Lehre des reinen Wortes abläßt.“ Wie Lambert selbst das Loos häufig gebrauchte, so billigte er es auch, daß andere Berufene in schwierigen Collisionsfällen sich desselben bedienten. Ebenso sollte die Gemeinde bei ihren Wahlen unter Umständen das Loos entscheiden lassen, ja dieses auch dann, wenn Zwiespalt zwischen der Gemeinde und Obrigkeit entstehe, zur Anwendung gebracht werden. Diese Empfehlung des Looses hing bei ihm auf das Engste zusammen mit seinen christokratischen Anschauungen.
Das staatliche und kirchliche Gebiet sind nach Lambert zwar wohl zu unterscheiden und zu scheiden, dennoch aber haben die Obrigkeiten als vorzügliche Glieder der Kirche auf diese Einfluß auszuüben. „Die Senate eines jeden Ortes sollen darauf sehen und darüber wachen, daß die von den Gläubigen jeder Parochie zu Bischöfen Gewählten für diesen Dienst geschickt seien. Dasselbe gilt auch für den Fürsten und zwar ganz besonders.“ „Die Magistrate dürfen gebieten, daß etwas nicht ohne das Wort geschehe und alsdann ist zu gehorchen.“ An einzelnen Stellen dehnte Lambert das Recht der im Evangelium stehenden Obrigkeit über die Gewissen so weit aus, daß seine Lehren zu den unchristlichsten Dragonadengrundsätzen führen mußten. So forderte er den König von Frankreich auf, die Einwohner von Avignon und Umgegend, wenn sie hartnäckig dem Antichrist anhängen würden, durch Anwendung von Gewaltmaßregeln zur Bekehrung zu zwingen. Er meinte, „man müsse sie gegen ihren Willen für einige Zeit betrüben, damit sie gerettet würden.“ Diesem despotischen Grundsatz stellte er nun aber einen anderen gegenüber, der fast geradezu zur Revolution aufforderte. Es war der Satz: „Aber verbietet die Obrigkeit das Evangelium, so soll ihr nicht gehorcht werden. Diesem gemäß verlangte er nicht nur im Allgemeinen, daß die Unterthanen unevangelischer Fürsten sich von diesen lossagten und sich andere Obrigkeiten wählten, sondern erließ auch in diesem Sinne an einzelne Städte und Landschaften Aufforderungen. An den Bischof von Lausanne schrieb er: „Verweigern dieß (das Wort Gottes) Fürsten und Obrigkeiten, die doch selber für christgläubig gehalten sein wollen, so können sich die Völker geradezu ihrer Oberherrlichkeit entziehen. Denn die Völker sind gehalten in allen Stücken dem Fürsten oder sonstiger Obrigkeit sich zu fügen, ausgenommen in dem, was gegen das Wort Gottes ist, und darin, daß sie Gottes Wort nicht hören sollen.“ Für ganz besonders berechtigt hielt er es, wenn die Unterthanen sich den katholischen Bischöfen, deren weltliche Herrschaft ja mit ihrem Amte überdies in Widerspruch stehe, entzögen. Er schrieb an den König Franz: „Nach Christi Befehl sollten die Bischöfe nicht weltlich herrschen, wie der Papst will, der, wenn man es zugäbe, alle Fürsten zu Bettler machen würde. Um wie viel besser stände es nicht, wenn Alles, was sie von der weltlichen Herrschaft an sich gerissen haben, Ew. glorreichen Majestät allein gehörte. Denn sie können und sollen einmal nicht Bischöfe und Fürsten zugleich sein, sintemal ein Bischof nichts Anderes zu schaffen haben soll, als das Wort Gottes zu verkündigen in aller Demuth, und Diener aller Gläubigen zu sein. Möchten doch alle Provinzen und Städte ihren Fürsten und ihrer weltlichen Obrigkeit allein unterthan sein, ja sich losreißen von den geistlichen Herrn unter der einzigen Bedingung, daß die weltlichen Fürsten das Evangelium freigäben.
Wie sehr contrastirten solche Anweisungen Lambert’s mit denen Luther’s, welcher die Völker beharrlich ermahnte durch Leiden und Dulden den Sieg zu erkämpfen.
Wenn Lambert mit Entschiedenheit auf ein Kirchenregiment drang, an dem die Gemeinde sich betheiligte, so forderte er nun aber nicht minder bestimmt die Einführung einer christlichen Kirchenzucht. In seiner Sammlung von Streitsätzen sagte er: „Jede Kirche der Gläubigen und wer ihr auch vorstehe, wie Könige, Fürsten und Magistrate, können ja sollen, wenn eine Veranlassung vorliegt, ihre Untergebenen der äußeren Gemeinschaft der Gläubigen berauben, nämlich so, daß sie mit ihnen durchaus nicht zusammenwohnen oder anderweitig mit ihnen sich abgeben. Die Ursache, wegen welcher Etliche dieser äußeren Gemeinschaft beraubt werden, ist Ehebruch, Hurerei, Raub, Wucher, Verläumdung, Geiz, Grausamkeit, Berauschung, Trunkenheit, nach 1 Kor. 5; desgleichen Abfallen von Christo und Widerspruch gegen die Lehre der Frömmigkeit, wie erhellt aus dem zweiten Briefe des Johannes. Vor keiner Consequenz zurückscheuend sagt er in dem Commentar zum Jonas: „Es ist daher auch den Gläubigen erlaubt, zu ihren Mitbrüdern, den Fürsten, zu gehen und zu sagen: Bruder, wir sind Schaafe Christi, dir als seinem Knechte anvertraut, wir verlangen und wollen, daß du uns sein Wort verkündigen lassest. Will er nicht, so soll sich die ganze Kirche der ihm untergebenen Gläubigen versammeln, damit sie, nicht mit den Waffen, sondern nach Gottes Wort entscheiden, was mit ihrem Bruder, der auf dem Throne sitzt, anzufangen sei. Dasselbe sollen sie ebenfalls thun, wenn er in vielen Stücken dem Worte Gottes entgegen ist.“
Mannigfach belebt wurden diese kirchenzuchtlichen Ideen Lambert’s jedenfalls durch die Straßburger Theologen, welche als die Pfleger und Väter der evangelischen Kirchenzucht dastehen. Wahrscheinlich aber ist Lambert sehr früh in dieser Richtung, und zwar zuerst durch die Waldenser, mit denen er von Avignon aus in Berührung kam, und sodann durch seinen Landsmann Farel angeregt worden.
Noch müssen wir ein Wort sagen über Lambert’s vielfach angefochtene Stellung zur Wissenschaft, eine Stellung, welche er theils aus Opposition gegen die hereinbrechende Vergötterung der Classiker, die ja allerdings den neuen Tag angeläutet hatten, theils zur Vertheidigung seiner Art der Schrifterklärung, welche freilich nicht immer die exacteste Sprachkenntniß zu ihrer Unterlage hatte, theils endlich, um mit gründlichem Ernste dem Weltgeiste den heiligen Geist in seiner Allmacht und Herrlichkeit gegenüberzustellen und das prophetische Element im Amte des Dieners am Worte gegenüber der Hinrichtung der Zeit auf das Doctrinelle, auf die Schönrednerei und auf das Formenwesen in das rechte Licht zu setzen, einnahm. Namentlich war es seine Schrift: „von der Schrifterklärung (Prophetie), Gelehrsamkeit, den Sprachen, vom Geiste und Buchstaben, worin er sich in dieser Richtung aussprach. Es mögen hier einige Sätze aus derselben einen Platz finden: „Es gibt ein doppeltes Sinnesvermögen, ein erschaffenes und unerschaffenes. Jenes ist in den Menschen und Engeln, dieses in Gott. Jenes hat es mit den sinnlichen Dingen und den menschlichen Wissenschaften zu thun, doch vermag es auch diese nur sehr unvollkommen zu ergründen. Die Gläubigen unter den Menschen und die guten Engel allein stehen anders als die anderen persönlichen Wesen. Das Sinnesvermögen dieser wird angeleuchtet und vollendet von oben, durch das unerschaffene Sinnesvermögen, die göttliche Wahrheit. Weil sie von Gott gelehrt sind, erkennen sie sogar die zeitlichen und sinnlichen Dinge besser als die Anderen, in denen Lüge, Zügellosigkeit u. s. w. herrscht. Denn in der That, wenn die Gelehrsamkeit der Ungläubigen verglichen wird mit der Gelehrsamkeit eines einzigen Gerechten, so ist sie nur Fleisch und Straßenkoth. Auch vermag nur der Glaube, nicht aber die menschliche Wissenschaft, zur Herstellung des göttlichen Ebenbildes, d. i. zur Erreichung des letzten Menschheitszweckes etwas beizutragen. Da es nun bekannt ist, daß den Ungläubigen Alles zum Verderben ausschlägt und es unmöglich ist, daß der Ungläubige von seiner menschlichen Gelehrsamkeit den rechten Gebrauch mache, wer sollte nicht davor erschrecken, länger bei den Schriften der Heiden zu verweilen und sich ferner von den Heiden belehren zu lassen? Aus den Quellen kann man nichts Anderes schöpfen als das was in ihnen ist. Nun glaube aber nicht, daß ich das verdamme, was sich den Ungläubigen aus der Natur der Dinge, worüber sie reden, ergibt, sondern was sie aus ihrem Herzen hinzuthun, wie falsche Schlüsse, Begründungen und dergleichen. Ich nenne profane Wissenschaft alles das, was auf irgend eine Weise den Geist eitel und unbeständig macht, wie die Künste der Sophisten, die Cautelen der Juristen, die Decretalen der Päpste, die Regeln der Mönche, die Kunst des Ovidius, die Liebe des Pamphilus, die Tragödien u. s. w. Es gibt aber Viele, welche sich heuchlerisch des Bekenntnisses Christi rühmen und doch so am Profanen hängen, daß ihnen die Fabeln besser gefallen als die Wahrheit, Plato besser als Johannes, Aristoteles besser als Moses, Virgilius besser als Paulus. Ihnen gilt es für nichts, daß ihr Sinn verpestet werde, wenn sie nur ihre Sprache ausbilden und einige Sophismen wissen, wodurch sie vor den Menschen etwas zu sein scheinen. Und doch haben die Gläubigen eine Beredsamkeit, die herrlicher ist als die von Millionen Ciceros. Aber diese ist eine zarte und wird nur von den Heiligen vernommen und gefällt nur diesen. Die wird nicht durch der Menschen sondern durch Gottes Sinn und Geist geregelt und indem der Herr sie den Seinen schenkt, sagt er: Ich will Euch Mund und Weisheit geben, denen alle Eure Gegner nicht widersprechen und widerstehen können. So war Paulus beredt, so Matthäus und alle Propheten und Apostel Gottes. Verwerfen wir nun alle menschliche Gelehrsamkeit? Das sei ferne, daß wir Werke Gottes verwerfen. Wahre menschliche Gelehrsamkeit ist ebensogut ein Werk Gottes als Steine und Hölzer. Das aber wollen wir, daß Niemand anders als im Glauben das Menschliche überdenke und so darin gelehrt sein wolle. Wir wollen, daß immer der Zügel der göttlichen Aussprüche zur Hand sei. Bei allen deinen Studien muß es dein Ziel sein, Gott erkennen zu lernen. Was aber nicht dahin führt, mußt du wie Gift der Schlangen verabscheuen. Lies meinetwegen die Commentare des Averroes und den Virgil, aber hüte dich, daß sie dich nicht hinnehmen und dich das in ihnen errege und das dir gefalle, was in ihnen eitel und dem Worte Gottes nicht gemäß ist. Bete ohne Unterlaß zu dem Herrn, daß dich der Menschentand nicht anstecke. Frage oft dein Herz und siehe, ob es durch diese Studien beschmutzt worden ist. Wenn du aber den fleischlichen Sinn so in dir vorherrschen siehst, daß du den menschlichen Studien nicht im Glauben obliegen kannst, und merkest du, daß dir alles dieses zum Verderben gereichen würde, so mußt du es lieber ganz meiden. Es ist dir besser, daß du das Auge des menschlichen Wissens ausreißest, als daß du durch dasselbe zu Grunde gehest.
Nun entgegnen Manche, daß die menschliche Gelehrsamkeit den Weg bereite zu der göttlichen Weisheit. Aber meine Meinung ist von der dieser so fern als der Morgen vom Abende. Die Weisheit des Herrn hat Christus gelehrt. Johannes der Täufer hat aber zu ihr den Weg bereitet nicht dadurch, daß er Rhetorik oder Dialektik oder Sophistik lehrte, sondern indem er Buße predigte. Also ist die menschliche Wissenschaft unnütz? Das sei ferne! Den Gläubigen wirket Alles zum Guten mit (Rom. 8) und das zwar wegen des Glaubens. Aber falsch ist es zu behaupten, daß die Schriften Gottes ohne die Kenntniß der Humanitätswissenschaften (literae politiores et artes liberales) nicht ausgelegt werden könnten. Nur das ist nöthig, daß sie in die Sprache übersetzt seien, welche dir bekannt ist. Ansonsten kehrten wir zurück zu dem Wahnwitze der Scholastiker, welche behaupteten, daß man den Aristoteles studirt haben müsse, bevor man zur Theologie geschickt werde. Wir hingegen sagen, lateinische Gelehrsamkeit müsse der haben, welcher ein lateinisches Buch erklären will, die hebräische für die hebräischen Codices und zwar so viel, daß du das, was du liesest, verstehen könnest. Wenn du aber nur in der Volkssprache unterrichtet bist und du die Bibel in dieser Sprache hast, so behaupten wir, daß du zu deren Erklärung menschliche Gelehrsamkeit nicht nöthig hast, sondern allein den Geist Gottes, damit dein Sinn durch ihn für das Höhere aufgeschlossen wird.
Möchte es doch Gott allen Magistraten in das Herz geben, daß sie für den Unterricht der Jugend der Gläubigen gute Schulen errichteten, in denen, so weit es nöthig ist, Göttliches und Menschliches gelehrt wird. Vor Allen aber muß darin Christus gelehrt werden und es müssen dafür Lehrer erwählt werden, welchen es ihre Hauptsorge ist, daß die Knaben fromm werden. Es ist schon ein großes Stück Wissenschaft, wenn man weiß, daß das, was hierzu nicht förderlich ist, wegzuwerfen sei. Da die Armen Gott nicht weniger theuer sind als die Reichen, so müssen die Lehrer aus öffentlicher Kasse besoldet werden, damit auch die Knaben armer Eltern Unterricht empfangen können. Namentlich wäre auch für Unterricht indem Schreiben und Rechnen zu sorgen. Und weil das Christenthum den Unterschied der Geschlechter nicht kennt, so müßten auch Mädchenschulen eingerichtet und diesen ehrwürdige, fromme und unterrichtete Frauen vorgesetzt werden, welche Unterricht im Lesen und weiblichen Arbeiten ertheilen.
Heben wir nach diesen Stellen aus dem ersten auch noch einige aus dem fünften Tractate des vorgenannten Buches Lambert’s heraus. Es handelt von der Prophetie.
Unter Prophetie versteht man Ankündigung des Verborgenen, dann aber auch alle Predigt, alles Lehren des Wortes Gottes, sei es auch in den Schulen. Ein wahrer Prophet kann nur der sein, welcher auch den Geist Gottes hat. Wer ohne diesen lehrt, ist, auch dann wenn er Gottes Wort verkündigt, ein falscher Prophet. Die Größe und der Vorrang der Propheten hängt nicht ab von Beredsamkeit, Gelehrsamkeit, Sprachkenntniß, Anlage, Alter, Erfahrung, auch nicht von der Bethätigung von Wunderkräften, sondern vom Werke des h. Geistes. Es gilt Einfalt, Reinheit, Eifer für beständige Behauptung und Verkündigung der Wahrheit. Wenn du Prophetie hörst, mußt du oft dein Herz fragen, was dich bewegt, ob Fleisch oder Geist. Gebet und Meditation sind die rechte Vorbereitung für die Prophetie, und der Prophet muß sich vom Geiste Gottes in Allem leiten lassen. Gleichnisse und Alles, was zur Erklärung vorgebracht wird, soll durchaus im Dienste der Sache stehen. Man soll nur dann predigen, wann es der Gemeinde und dem Prediger dienlich und nützlich ist. Dem Prediger ist es dienlich, wenn sein Geist vom Herrn dazu getrieben wird und er merkt, daß sein Herz vom Geiste des Herrn unterrichtet und von irdischen Affecten gereinigt wird, ferner wenn er, nachdem er unter Anstrengung aller seiner Kräfte und mit Furcht und Zittern sich vorbereitet hat, bloß im Vertrauen auf den Herrn, um zu seiner Ehre zu wirken und aus brennendem Verlangen, Seelen zu retten, die Kanzel besteigt. Die Predigt soll nicht über eine Stunde dauern, es sei denn, daß außerordentliche Umstände und der Trieb des heiligen Geistes es anders forderen. In der Predigt selbst kommt es vor Allem auf Einfalt an und daß man im Glauben sie beginne und durchführe. Man hüte sich, daß man nicht zu viele Citate herbeiziehe; selbst unnöthige Anführungen aus der heiligen Schrift vermeide man. Alles sei so einfach und schlicht gehalten, daß es auch der geringste Mann verstehen könne. Die Sprachweise der Apostel und Propheten muß hierin Muster sein. Der Redende sage nur solches, was ihm selbst recht klar ist und lasse sich nicht auf Dinge ein, die ihm noch verschlossen oder überhaupt zu hoch sind. Ueberhaupt gilt es nicht auf der Kanzel, Rhetorik zu treiben.
Da alles wahre Schriftverständniß von Gott abhängt, so können auch die Ungelehrigsten, auch diejenigen, welche nicht lesen können, dazu gelangen. Oft kommen sie sogar leichter dazu als die Gelehrten, welche menschliche Gelehrsamkeit und Vertrauen auf ihre Anlagen und Erfahrung aufzublähen pflegt.
Die menschliche Weisheit sucht Gott zu erkennen und seine Weisheit zu durchdringen. Sie glaubt sich selbst genug zu sein und will die göttliche Weisheit nicht zulassen und hört nicht auf gegen sie zu kämpfen, weil die eine Fleisch, die andere Geist ist. Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch. Gegen dieses nun sich erhebend zeigt die Weisheit Gottes auf das Kräftigste, daß die menschliche Weisheit Gott und seine Geheimnisse nicht erkennen kann. Sie thut auch dar, daß sie in keiner Sache genügend sei und kein gesundes und nützliches Urtheil aus sich selbst zu fällen vermag. Dieses erkennend stoßen die Gläubigen die geschaffene Weisheit zurück und verachten sie und schätzen sie gering im Vergleich mit der göttlichen, deren gewaltige Kraft sie an sich erfahren haben. Und gewiß müssen alle Diener am Worte auf das Angelegentlichste darnach streben, daß zu Grunde gehe, was sich auf menschliche Weisheit bezieht, wie Philosophie, schöne Wissenschaften, Sprachen und Alles, nämlich so, daß sie ihnen nichts einräumen in dem, was sich auf das Göttliche und das Hell und die wahre Gerechtigkeit bezieht. Aber verstehe nicht falsch, was ich sage. Wir wollen und betreiben- es eifrigst, daß sie vernichtet werden, nicht so aber, daß sie überhaupt nicht seien, d. h. nicht so, daß Keiner in der Philosophie, den Künsten, den schönen Wissenschaften, und Sprachen unterrichtet sei, sondern, daß man wisse, daß sie in göttlichen Dingen nichts vermögen und daß sie, mit dem Göttlichen verglichen, wie Dreck und Koth sind. Nun werden sich wegen dieser meiner Reden allerdings die Literaten gegen mich erheben, aber mir gilt dieses sehr wenig. Scheuen sie sich doch nicht wider Gott zu reden. Mögen sie es versuchen wider den heiligen Geist, der gesagt hat: Ich will die Weisheit dieser Welt zu Nichte machen.“
Wer kann leugnen, daß Lambert in den meisten dieser Sätze in vollem Rechte war und zwar nicht nur der falschen Wissenschaft gegenüber, wie der scholastischen Theologie, der das Heidenthum vergötternden Sprachwissenschaft u.s.w., sondern auch gegenüber der wahren Wissenschaft? Aber verkennen kann man es auch nicht, daß seine Opposition zum Theil eine falsche war. Wohin käme selbst die Theologie, wenn sie sich nicht gründete auf die sorgfältigste sprachliche Durchforschung des heiligen Grundtextes? Wie vielfach geht gerade Lambert selbst in seinen Commentaren zu den Propheten irre, weil er die Vulgata statt des hebräischen Textes als Grundlage benutzt!
5. Lambert und die Synode zu Homburg in Hessen.
Lambert trat jetzt in nahe Beziehung zu dem Manne, welcher in der ganzen Reformationszeit als der kühnste und eifrigste Vertreter und Sachwalter des Protestantismus da stand, zu Landgraf Philipp dem Großmüthigen. Dieser hatte zwar erst seit einigen Jahren angefangen, Luther’s Bücher zu lesen und sich zu den sächsischen Reformatoren und namentlich Melanchthon in nähere Beziehung zu fetzen, hatte seitdem aber auch die reformatorischen Ideen mit jugendlicher Begeisterung aufgenommen und sich mit der ganzen Festigkeit feines großen und klaren Geistes ihnen zugewendet. Auf dem Reichstage zu Speier und vorher durch Unterhandlungen und Bündnisse mit benachbarten Fürsten half er es durchsetzen, daß dem Evangelium, das schwer bedroht war, die Thore vieler Städte und Länder sich öffnen durften. Vor Allem aber war er gewillt „seinen Hessen zu helfen“ und den Abschied von Speier, wornach sich jeder Stand in Betreff des Wormser Edictes verhalten mochte, wie er es gegen Gott und gegen den Kaiser zu verantworten gedachte, für sein Fürstenthum möglichst günstig auszubeuten und die Kirche desselben planmäßig zu reformiren. Mit der Leitung des Reformationswerkes betraute er neben seinem Hofprediger Adam Kraft und Anderen namentlich unseren Lambert.
Landgraf Philipp entschloß sich, dem Worte Gottes durch einen möglichst großen und öffentlichen Act die Bahn zu den Gemüthern zu brechen und hielt eine Synode und Disputation, wozu er alle Pfarrherrn und Altaristen und die Edeln seines Landes einladen ließ, dazu für besonders geeignet. Diese wurde für Homberg, ein in der Mitte Niederhessens gelegenes Landstädtchen ausgeschrieben.
An Lambert war gleich bei seiner Berufung der Auftrag ergangen, Thesen anzufertigen, welche einer etwaigen Disputation mit den Gegnern der evangelischen Lehre zu Grunde gelegt werden könnten. Da der Franzose sich nun mit ähnlichen Arbeiten schon öfters beschäftigt hatte, so war er trotz der Kürze der Zeit damit zu Stande gekommen. Zu gehöriger Stunde prangten 158 Thesen, zusammengesetzt unter 23 Titel, an der Thüre der Hauptkirche zu Homberg. Lambert nannte sie, weil sie der hergebrachten Kirchenlehre widersprachen. Die Sätze sind wohl durchdacht, heben die Hauptpunkte klar hervor und stellen die bisherigen Mißbräuche sowohl als die Normen für die Reformation in ein helles Licht. An die Spitze derselben traten die Worte: „Alles Deformirte muß reformirt werden.“ Und: „Es ist nur das richtig, was mit dem Worte Gottes übereinstimmt, was selbst allein die zuverlässigste Norm für jede Reform abgibt“.
Am 26. October 1526, Sonntag nach Galli, Morgens 7 Uhr, ward die Synode in Gegenwart des Landgrafen, der Prälaten und Geistlichen, der Grafen, Ritter und Abgeordneten der Städte in der Kirche eröffnet. Der Zulauf war groß. Aus ganz Hessen strömte eine ungeheure allen Ständen angehörige Menschenmasse zusammen.
Die Eröffnung und Leitung der Versammlung übernahm der landgräfliche Kanzler, Johannes Feige, ein durchbildeter, kluger und weiser Mann, der mit rastloser Thätigkeit seinem Fürsten diente und selbst dem Evangelium von Herzen zugethan war. In der Eröffnungsrede sagte er, nachdem er auf die bösen Folgen des Religionszwiespaltes hingewiesen hatte, der Hauptsache nach Folgendes: Da die Mißbräuche der Kirche mannigfach und unleugbar seien und der gegenwärtige Zwiespalt schwachen Gewissen großes Aergerniß gewähren müsse, so habe der Landgraf, dem Vorbilde der alten christlichen Kaiser folgend, seine Geistlichen berufen, um von ihnen zu erfahren, wie die Einhelligkeit in der Lehre wieder herzustellen sei. Der Landgraf habe hierauf um so mehr Bedacht nehmen müssen, da er durch das Edict von Speyer verpflichtet werde, bis zu einem künftigen Nationalconcil die Sachen so zu bestellen, wie er es vor Gott und dem Kaiser verantworten könne. Er habe den Weg betreten, welcher ihm für das in das Auge gefaßte Ziel als der dienlichste erschienen sei. An den Kirchthüren wären von dem ehrwürdigen Franz Lambert von Avignon Thesen ausgehängt, welche dieser aus dem Evangelium zu beweisen gedenke. Der Wunsch des Fürsten gehe nun dahin, daß Alle, welche die erwähnten Sätze aus apostolischer und prophetischer Schrift widerlegen wollten, hervortreten und sie mit bescheidenen Worten und ohne Lästerung und Bitterkeit angreifen möchten. Damit Niemand wähnen könne, daß er wegen seines Angriffes böse Folgen zu fürchten habe, würde im Voraus Allen freies und sicheres Geleit zugesagt. Diejenigen, welche des Lateinischen nicht kundig seien, könnten auch in deutscher Sprache verhandeln und sich an den Hofprediger Kraft wenden, welcher dem Lambert beigegeben sei.‘
Nach dem Kanzler ergriff Lambert das Wort. Er publicirte die Thesen und erläuterte und begründete sie aus der heiligen Schrift. Hiermit gingen die Vormittagsstunden hin.
Am Nachmittage wurden bei Wiedereröffnung der Versammlung die Thesen auch in deutscher Sprache verlesen und erörtert und zwar von Adam Kraft. Als dieser dann eine Aufforderung erließ, daß die Gegner der Thesen hervortreten möchten, meldete sich nur Nicolaus Ferber, Guardian der Franziskaner zu Marburg. Viele Andere, welche noch am Morgen gedroht und geprahlt hatten, zogen sich jetzt zurück.
Am Montage sollte die Disputation eröffnet werden. Als Lambert nun aber an Jedermann und namentlich an Ferber die Bitte richtete, die Sätze aus Gottes Wort zu widerlegen, erklärte Ferber, daß er es nicht mit den Theologen, sondern nur mit dem Landgrafen zu thun haben wolle. Behauptend, daß dieser Ort sich nicht für eine Disputation eigne, las er von einem Zettel einige verworrene Sätze ab, deren Hauptsinn dahin zielte, daß dem Landgrafen nicht das Recht zustehe, eine Synode abzuhalten, und das er, der Guardian, obwohl die lutherische Ketzerei von vielen hohen Schulen längst verdammt sei, dennoch demnächst mit Gegenthesen hervortreten werde. Der arme Mönch, welcher schließlich auch noch auf das Wormser Edict sich berufen hatte, erregte durch seine Vorlesung bei den Anwesenden nur Spott und Mitleid. Der Kanzler, welcher darauf das Wort ergriff, verwies den Guardian auf päpstliche Kanones, welche alle Obrigkeiten verpflichteten, alle Mißbräuche und jede Abgötterei abzustellen, fetzte auseinander, daß der Landgraf gerade deshalb, weil er vor allen Gewaltsamkeiten zurückschrecke, ihn und die Anderen Geistlichen berufen habe und drang auf’s Neue in ihn, aus der heiligen Schrift Lambert zu widerlegen. Der Pater antwortete auf diese ruhigen Erörterungen nur mit trotzigen Worten. Er erklärte, daß Lambert ein entlaufener Mönch und daß die Sachen der Religion vor den Anwesenden, als vor Ketzern nicht verhandelt werden könnten. Auch den Landgraf selbst erkühnte er sich anzugreifen. Er warf ihm Lust nach dem Besitze der Klostergüter vor. Nun hielt sich der Landgraf für verpflichtet, selbst darein zu sprechen. Er sagte, daß er wie bei anderen früheren Gelegenheiten so auch jetzt den Guardian ernstlich erinnern müsse, daß nur das Wort Gottes der Maßstab der Kirchenlehre sein könne, daß die Anklage auf Klosterraub nicht nur ungerecht sei, sondern auch nur aus einem höchst undankbaren Herzen hervorfließen könne, da der Orden bisher nur Schutz und Gnadenerweisungen von ihm erfahren, und schloß mit einer Ermahnung, daß auch er darauf bestehen müsse, daß der Guardian mit dem Schwerte des göttlichen Wortes seine Sache vertheidige.
Solchen dringenden Anmahnungen konnte Ferber, wenn er sich nicht noch mehr beschämt sehen wollte, nicht länger ausweichen. Er unternahm es, von einem Zettel etliche Gegenbehauptungen abzulesen. Obwohl auch diese nicht der heiligen Schrift entnommen waren, so hielt doch der Landgraf darauf, daß sie von der Versammlung mit Ruhe angehört wurden. Es sollte nicht heißen, daß der Mönch nicht volle Gelegenheit gehabt habe, sich zu vertheidigen.
Nun kam endlich auch Lambert, der schon lange nur mit Mühe sich zurückgehalten hatte, zum Worte. Mit gewohnter Lebhaftigkeit brach er los. Vor Allem wies er nach, daß die Gegenthesen des Guardian, da sie nicht aus Gottes Wort genommen seien, gar keinen Anspruch darauf machen könnten, daß er sie einer Widerlegung unterziehe. Dann antwortete er sehr weitläufig auf die Anklage, daß er dem Kloster entlaufen sei. Er wies nach, daß sein Austritt vollständig dadurch gerechtfertigt sei, daß er nur außer dem Kloster den Zweck, um dessen Willen er Mönch geworden sei, erreichen könne. Näher ging er auf das dritte Paradoxon des sechsten Artikels ein und that dar, daß dieses von Guardian nicht recht verstanden sei. Da er meinte, daß dieser ihn auch des Atheismus beschuldigt habe, so legte er ferner ein vollständiges Glaubensbekenntniß ab. Den Guardian selbst erklärte er für einen jämmerlich besiegten, geschworenen Feind Christi, welcher weder dem Herrn noch seinem Worte Glauben schenke. Lambert schloß mit Beschwörungs- und Triumph-Reden, worin er sich mit David und den Guardian mit Goliath verglich.
Hiermit wurden die Verhandlungen des Vormittags geschlossen. Lambert selbst bekannte nachmals, daß er zu heftig geworden sei. Er entschuldigte sich damit, daß der Eifer um das Haus Gottes ihn verzehrt-habe.
Da Lambert während des Mittagsessens angegangen wurde, den Mönch nicht ohne Weiteres zu entlassen, sondern darauf zu bestehen, daß er entweder Beweise bringe oder öffentlich widerrufe, so ließ er es bei Wiedereröffnung der Sitzungen am Nachmittage an dringlichen Herausforderungen nicht fehlen. Der Guardian gerieth in große Noth. Er beschwor den Landgrafen bei dem Leiden Christi, seiner zu schonen. Da er dann, immer härter gedrängt, zu behaupten wagte, daß er Lambert bereits hinlänglich widerlegt habe und daß dieser Ort für eine Disputation nicht passend sei, so kam es noch zu einer tragi-komischen Scene. Lambert, durch die Entgegnung des Guardian gereizt, brach in die Worte aus: Man treibe diese Bestie aus dem Lande. Der Guardian verstand: Man tödte diese Bestie. Flehentlich und mit lautem Geschrei rief Ferber nun die Hülfe des Landgrafen an. Dieser schickte sofort zu den Streitenden, ließ das Mißverständniß aufklären und den geängstigten Mann beruhigen. Aber mit dieser Scene endigte auch die Disputation. Alle Ermahnungen, welche der Landgraf noch schließlich an Ferber dahin richtete, daß er doch endlich an eine wirkliche Widerlegung gehen und es vermeiden möge, daß er unter dem Schimpf und Hohn der Anwesenden abziehen müsse, blieben erfolglos. Der Guardian zog ab, Lambert aber schloß mit einem Dankgebet und einer Erklärung der Worte: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israel, denn er hat besucht und erlöst sein Volk.“
Am dritten Tage der Synode trat, da Lambert den Fehdehandschuh nochmals hinwarf, zwar noch einmal ein Päpstler auf, aber dieser war ebenfalls wenig bedeutend. Es war Magister Johannes Sperber, Pfarrer in Waldau bei Kassel. Der alte Mann, welcher es unternahm, die Anrufung der Maria zu vertheidigen, ward gründlich widerlegt und mußte alsbald verstummen.
Nun schloß man diese für Hessen so folgenreiche Synode. Mehrere aus ihr er Mitte er wählte fromme Männer aber wurden beauftragt, sofort an die Ausarbeitung ein er Reformationsordnung zu gehen.
Der besiegte Guardian, welcher in Hessen zum Gespötte geworden war, begab sich alsbald nach Köln. Dort veröffentlichte er seine in Homberg vorgetragenen Thesen mit Begründungen. Wenn auch nicht Anders, so sind doch die Stellen in diesem Werke lesenswerth, worin Ferber in hellen Farben die Beredsamkeit und Zungenfertigkeit seines Gegners zu schildern weiß. Franz Lambert ward durch die Angriffe Ferber’s veranlaßt, seine Thesen sammt Erläuterungen und einer Vertheidigungsschrift (der epistola ad Colonienses) abzufassen.
Landgraf Philipp ließ nach der Synode zu Homberg noch ein anderes Gespräch abhalten. Es fand dieses am 2. Januar 1527 zu Marburg statt. Hier ergriff der Prior anstatt des entflohenen Guardian, aber mit ebenso geringem Erfolge das Wort. Der Papismus hatte in Hessen sein Spiel verloren. Landgraf Philipp, gestützt auf weise Räthe, schritt rasch zur Einführung der Reformation.
Besondere Wichtigkeit hat für uns die in Folge der Homberger Synode entworfene Reformationsordnung. Der Betrachtung derselben sei der nächste Paragraph gewidmet.
6. Die Homberger Reformationsordnung.
Während in anderen Ländern die Reformation anfangs ihrer eignen Entwicklung ruhig überlassen und nur nicht unterdrückt wurde, trat in Hessen der Fall ein, daß der Landgraf sofort die Durchführung der Reformation in seinem ganzen Gebiete und damit die Einrichtung eines durchgreifenden neuen kirchlichen Organismus in das Auge faßte. Schon dadurch, daß man bei Entwerfung der Reformationsordnung in Homberg von diesem Gesichtspunkte ausging, nimmt der hessische Organisationsplan eine eigentümliche Stellung unter den Kirchenordnungen dieser Zeit ein. Noch bedeutsamer wird ihre Stellung aber dadurch, daß sie in vielen Fragen, und zumal in denen der Kirchenverfassung von Grundanschauungen ausgeht, welche von allen anderen Kirchen theils nicht gekannt, theils wenigstens in der Praxis, verleugnet wurden.
Die Homberger Reformationsordnung, welche nach dreitägiger Berathung niedergeschrieben sein soll und in lateinischer Sprache vorliegt stimmt in ihren Grundideen und zum Theil wörtlich mit dem überein, was Lambert in seinen früheren Schriften und zuletzt in seinen Homberger Streitsätzen vorgetragen hatte. Wahrscheinlich ist er auch Verfasser dieses merkwürdigen Schriftstückes.
Die Ordnung ist gemäß den in ihr ausgesprochenen Principien im Namen der Synode, nicht des Landesherrn oder des geistlichen Standes, erlassen und rechtfertigt ihr Dasein durch Berufung auf den Speierschen Abschied.
Ueber die Lehre enthält sie nur ganz beiläufige Bestimmungen. Das Dogma vom heil. Abendmahle trägt sie in einer vermittelnden Form, der Bucer’schen, vor. Daß diese in sie Eingang fand könnte selbst dann nicht befremden, wenn es feststände, daß Adam Kraft Mitredactor gewesen wäre. Dieser ausgezeichnete Mann hatte damals über die Abendmahlslehre noch keine feste Ansicht gewonnen und wurde erst später ein eifriger Lutheraner.
Die Bestimmungen, welche die Ordnung über Sachen des Cultus gibt, sind fast ganz lutherisch und keinenfalls zwinglisch. An einer Stelle und zwar gerade da, wo sie vom heil. Abendmahl handelt, verweist sie auf Luther’s deutsche Messe von 1526. Während in der Schweiz die Privatcommunion, die Privatbeichte, die Orgeln und die Wäre, ja selbst der Gesang abgeschafft wurde, ließ Lambert, wie die Straßburger, diese Dinge fortbestehen, ja billigte mit Luther, daß unter Umständen neben dem deutschen Gesange der lateinische in Uebung bleibe, und wehrte nur, wenn auch mit größerer Strenge als Luther, dem Mißbrauche. Dagegen soll nicht geleugnet werden, daß hier und dort in der Homberger Ordnung Manches gestrichen ist, was in Sachsen, wie z. B. der Gebrauch der Lichter, noch beibehalten wurde. Aber man beachte auch, daß viele Unterschiede dieser Art in den dreißiger Jahren sich noch nicht zu confessionellen Unterschieden erhoben hatten. Auch hat Luther selbst, als er sich über diese Arbeit aussprach, kein Wort gesagt, woraus man schließen durfte, daß er gegen die Bestimmungen derselben über Sachen des Cultus etwas einzuwenden hatte.
Ueber die Verfassung und Kirchenzucht aber bestimmte die Ordnung Folgendes:
Alle Gewalt steht in den einzelnen Gemeinden bei den wöchentlichen Versammlungen aller mündigen Gemeindeglieder. Den Weibern ist zwar erlaubt, anwesend zu sein, doch haben sie kein Stimmrecht. In diesen Versammlungen wird die Wahl der Bischöfe vorgenommen, die Kirchenzucht gehandhabt und werden Beschlüsse in Kirchenangelegenheiten gefaßt. Ueber den Gemeindeversammlungen steht die jährlich am dritten Sonntage nach Ostern in Marburg zu versammelnde Generalsynode. Es erscheinen hier alle Bischöfe und Abgeordnete aller Gemeinden, welche letztere Anträge, beziehungsweise Beschwerden der Gemeinden über die Bischöfe und Visitatoren vorzubringen haben. Auch der Fürst und die Edlen haben Stimmrecht. Bei der Synode steht die letzte Entscheidung über Alles, was die Kirchenregierung und die Erlassung kirchlicher Anordnungen angeht. Zur Erleichterung des Geschäftsganges wird ein engerer Ausschuß, dessen dreizehn Mitglieder von der Synode gewählt werden, bestellt. Während der Dauer der Synode soll dieser Ausschuß die geringeren Sachen selbstständig erledigen, die wichtigeren für die Synode vorberathen. Den Sitzungen der Dreizehn können nur die von ihnen Eingeladenen, der Fürst und die evangelischen Grafen beiwohnen. In der Zwischenzeit von einer Synode bis zur andern soll der Ausschuß, wenn wichtigere Sachen eine rasche Erledigung fordern, die Entscheidung in Gemeinschaft mit den zu den Sitzungen zu ladenden Visitatoren treffen. Der Ausschuß soll namentlich die Beschwerden gegen die Geistlichen annehmen und untersuchen, und eventuell die Bischöfe absetzen oder excommuniciren, auch in allen Fällen, in welchen die Gemeinden selbstständig gegen einen Bischof einschritten, eine Nachuntersuchung abhalten. Während der Synode wird täglich zweimal von einem Synodalmitgliede, welches von dem Präsidenten des Ausschusses bestimmt wird, vor dem Volke gepredigt. Am Schlusse der Synode ergreift einer der Dreizehn in ordentlicher Sitzung das Wort und publizirt die Beschlüsse.
Die persönliche Beaufsichtigung der Gemeinden und Bischöfe liegt drei Visitatoren ob. Diese haben nämlich erstens jede Gemeinde jährlich einmal zu besuchen und die inneren Zustände derselben zu prüfen, zweitens über die Würdigkeit der von der Gemeinde gewählten Geistlichen zu entscheiden, drittens die würdigen Pfarrer einzuführen und zu ordiniren, die unwürdigen aber abzusetzen. Die Visitatoren werden von der Synode gewählt.
Es gibt zwei Arten von kirchlichen Gemeindebeamten, die Pfarrer (episcopi) und deren Gehülfen (diaconi oder adjutores episcoporum) einerseits und die Almosenpfleger (diaconi ecclesiarum) andrerseits. Die Pfarrer (Bischöfe) werden von den Gemeinden gewählt und von den Visitatoren, eventuell von dem Synodalausschusse oder der Synode bestätigt. Sie sind die Präsidenten der Gemeindeversammlungen. Die Gemeinde soll den Pfarrer ernähren und ihm so viel geben, daß er mit seiner Familie leben und überdieß gastfrei sein kann. Es gibt keine Synecuren. Jeder gelehrte, fromme Mann, welches Gewerbe er auch früher getrieben haben mag, kann gewählt werden. Da die Geistlichen Diener sind, so können sie keine Gewalthaber oder Magistrate werden.
Alle Beamten der Kirche, auch die Visitatoren und Mitglieder des Ausschusses werden zu ihrem Amte durch Handauflegung vor der versammelten Gemeinde eingesegnet. An der Ordination betheiligen sich auch die sog. Laien in activer Weise.
Vorübergehende Bestimmungen, die also nur so lange in Kraft bleiben sollten, bis die Kirche vollständig organisirt sei, waren folgende: Für den Anfang soll der Fürst mit dem Beirathe der Visitatoren die Bischöfe an- und absetzen, und sollen die Visitatoren von dem Landesherrn und dem Synodalausschuß ernannt werden.
Noch muß erwähnt werden, daß es die Kirchenordnung nicht nur auf Einrichtung einer neuen Kirchenverfassung, sondern auch auf Neubildung der Kirche selbst resp. kirchlicher Gemeinden abgesehen hatte. Es erhellt dieses namentlich aus den Bestimmungen über die Handhabung der Kirchenzucht. Diese lauten aber folgendermaßen:
Die Kirchenzucht wird in erster Instanz von den Gemeindeversammlungen gehandhabt. Damit zu diesen nur wahrhaft Gläubige kommen, soll der Bischof bekannt machen, daß sich nur solche darin einfinden dürfen, welche gesonnen sind, ihren Sünden zu entsagen und die Gemeindeordnung namentlich dadurch aufrecht zu erhalten, daß sie über ihre eigenen Personen die Zucht ergehen lassen. Wer sich nicht demgemäß verhält, muß der Excommunication, d. h. der Ausschließung von den Gemeindeversammlungen, dem Abendmahle und dem Gottesdienste gewärtig sein. Damit aber Jedem Gelegenheit gegeben werde, Buße zu thun, soll jede (wohl jede erste!) Versammlung 14 Tage vorher angesagt und sollen die Straffälligen vom Bischof in der Zwischenzeit öfters vermahnt werden. Die Excommunication soll nicht, wie in der römischen Kirche, ein Mittel der Rache, sondern ein dem Helle der Seelen dienendes Zuchtmittel sein. Eben damit sie nicht mißbraucht werde, wird sie nicht in die Hand eines Einzelnen, wie des Bischofs, sondern der ganzen Gemeinde gelegt. Jedes Gemeindeglied hat sich ihr um so williger zu unterwerfen, da sie in der heiligen Schrift ausdrücklich angeordnet ist. Es ist bei der Handhabung der Kirchenzucht nach Matth. Cap. XVIII zu verfahren. Selbst der Bischof ist der Rüge und Ermahnung der Gemeinde nicht entzogen. Während über ihn verhandelt wird, hat er die Versammlung zu verlassen und es übernimmt für diese Zeit einer der Aeltesten deren Leitung. Bei öffentlichen Aergernissen ist auch die Excommunication eine öffentliche. Es ist den Gemeindegliedern der specifisch christliche Umgang mit den Excommunicirten verboten. Wenn ein Ausgestoßener wieder aufgenommen werden will, so hat er ein öffentliches Sündenbekenntniß abzulegen. Die Lossprechung von dem Banne geschieht im Namen der Gemeinde von dem Bischofe, und zwar nach einem vorgeschriebenen Formular. Wer den Wiederaufgenommenen nicht mit Schonung behandelt, wird selbst excommunicirt.
Eine zweite Instanz bildet die Synode (resp. der Synodalausschuß). Diese hat auch alle Sachen der Geistlichen vor ihr Forum zu ziehen. Die Synode macht die Namen der von ihr Excommunicirten oder Aufgenommenen öffentlich bekannt. Uebrigens steht es den einzelnen Gemeinden zu, die von der Synode Excommunicirten wieder aufzunehmen und die Gemeinden haben davon nur den Nachbargemeinden und der Synodalstadt Marburg Nachricht zu geben.
Dieser Auszug, mehr noch die Kirchenordnung selbst, zeigt uns, daß ihre Verfasser und namentlich Lambert, der uns darin gereifter und maßhaltiger als früher entgegentritt, von dem ganzen warmen Gefühl evangelischer Begeisterung getragen wurden und dahin strebten, apostolische Gemeinden und Gemeindezustände wieder herzustellen. Ebenso entschieden wie das Recht der christlichen Freiheit wird überall die Nothwendigkeit einer christlichen Ordnung betont; mit aller Nachhaltigkeit wird zwar einerseits die Idee des allgemeinen Priesterthums zur Anwendung gebracht, andererseits aber auch die gottgeordnete Stellung der höheren Stände richtig gewürdigt und durch Einführung einer eigentlichen Kirchenzucht, welche sich wesentlich von der von Zwingli angeordneten und dazu nicht durch die Organe der Kirche gehandhabten Sittenzucht unterscheidet, dahin gestrebt, Alles das aus der Gemeinde auszuscheiden, was ihre Reinheit beeinträchtigt und damit in prinzipiellen Widerspruch tritt. Jedenfalls ist es erfreulich, daß uns in diesem Schriftstück wenigstens ein Document entgegentritt, das auch auf practischem Gebiet das Ideal, welches dem Geiste der Reformatoren vorschwebte, fest im Auge zu behalten suchte. Auch wo die Verfasser irren, erscheinen sie uns liebenswürdig und lassen die Begeisterung durchfühlen, womit sie ein hohes Ziel anstrebten.
Daß man dieser Ordnung überall die Straßburgischen Einflüsse anmerkt, ist bereits oben hervorgehoben. Straßburg, von dem nachmals, und wieder zuerst durch Uebertragung seiner Nonnen nach Hessen, fast allein Kirchenzucht und Presbyterial- und Synodalverfassung in Deutschland gepflegt wurde, machte mit der Homberger Ordnung einen ersten, freilich zu kühnen und noch sehr jugendlichen Versuch, seinen Anschauungen auswärts Geltung zu verschaffen. Für Hessen ward diese Ordnung jedenfalls schon dadurch wichtig, daß man sich in ihr zu Principien bekannte, die, wenn sie einmal ausgesprochen und in ihrem Rechte anerkannt sind, sehr schwer wieder ganz verleugnet werden können.
Uebrigens ist die in der Homberger Ordnung vorliegende Verfassung keine Presbyterial-, sondern eine reine Synodalverfassung. Alle Gewalt ist in erster Instanz bei den Gemeindeversammlungen, in letzter aber bei der Synode. Auch die Visitatoren sind nur Delegirte der Synode. Presbyter werden Cap. III. genannt, jedoch in einem Satze, aus dem weiterhin keine praktischen Folgen resultiren. Die seniores aber, welche Cap. XII., XV., XX. und XXI. genannt werden, sind beliebige fromme Greise, welche nur als solche sich bei der Ordination der Armenpfleger betheiligen sollten. Daß kein Amt der Presbyter vorgesehen war, erhellt namentlich aus Cap. XV. und XXI., denn ansonsten wäre gewiß für diese ebensowohl als für die Almosenpfleger und Mitglieder des Synodalausschusses eine Ordination angeordnet worden.
In welchem Grade das allgemeine Priesterthum hier zu seinem Rechte kam, erhellt nicht nur aus den den Gemeindeversammlungen, in denen die Pfarrer nur als Präsidirende einen Vorrang genossen, beigelegten Rechten, sondern auch daraus, daß auf den Synoden die Zahl der Laiendeputirten der der Pfarrer ganz gleich war, ja die von der Synode mit ihrer Vollmacht betrauten Organe ebensowohl aus der Zahl der Anderen als der Pfarrer gewählt werden konnten. Sehr characteristisch ist es übrigens auch, daß die Nichtgeistlichen auch an der Ordination sich activ zu betheiligen hatten.
Auf der anderen Seite verdient es wohl gewürdigt zu werden, daß gerade die Homberger Ordnung, und zwar trotz dessen daß sie die Prediger als solche nicht bevorzugt, das Amt nicht herabsetzt, sondern nachdrücklichst betont und als göttliches Amt zur Anerkennung bringt. Es erhellt dieses namentlich auch daraus, daß sie alle Träger der kirchlichen Aemter, auch die nur vorübergehend damit betrauten, ordinirt, ja die Ordination mit möglichst würdigen Formen umgeben wissen will. Ueberhaupt vergesse man nicht, daß gerade die reformirte Kirche früher und entschiedener auf rechte Würdigung der Ordination drang als die lutherische, welche letztere an deren Stelle zumeist nur eine Vorstellung des Pfarrers vor der Gemeinde treten ließ.
Wie sehr nun aber auch diese Ordnung von theoretischem Standpunkte aus Lob verdient, so wenig war sie doch den wirklichen Bedürfnissen entsprechend. Schon die Vorschriften derselben über den Gottesdienst, wie geringe Ansprüche sie auch an das Volk und die Pfarrer machten, bedurften, da die Meisten des Singens und Lesens unkundig waren und noch weniger sich sogleich von einem Cerimonialdienste zu einer geistigen Gottesverehrung zu erheben vermochten, wenigstens bedeutender Modificationen. Die Bestimmungen über die Verfassung aber waren für diese Zeiten nicht bloß, sondern theilweise auch für alle Zeiten der streitenden Kirche zu ideal und also zu unpraktisch gefaßt. Schon das, daß man alle Glieder der Gemeinde als wahre Priester Christi ansah und deshalb einer Vertretung der Gemeinde durch Presbyter entrathen zu können glaubte, war ein Grundsatz, der, an die Wirklichkeit gehalten, zu Schanden werden mußte. Und nun bedenke man, daß damals das Volk erst noch für das Evangelium zu gewinnen war und als ein roher heller Haufen aus den Händen der katholischen Geistlichen herübergenommen wurde. Allerdings verlangte nun Lambert, daß die Ungläubigen und Rohen von der neuen Kirche ausgeschlossen sein sollten. Aber hieß das nicht, sie für jetzt ganz aufgeben? Und wie und wodurch sollten und konnten sie bei solchen Bestimmungen jemals wieder in die Kirche zurückgeführt werden?
Wirklich kam diese Ordnung nun auch nicht zur Durchführung. Sie stieß auf mannigfachen Widerspruch und namentlich den Luther’s. Dieser, welcher ebenfalls von der Lehre vom allgemeinen Priesterthum ausgegangen war, lange Zeit die Autonomie der Gemeinde proclamirt, scharfe Trennung des geistlichen und weltlichen Gebietes gefordert und wenn auch nicht eine Neubildung der Kirche, doch die Bildung reiner Gemeinden, Gemeinden von Heiligen angestrebt hatte – hatte gerade in der Zeit, worin die Homberger Ordnung solchen Ideen Gestaltung zu geben und im Leben Geltung zu verschaffen suchte, angefangen, diese Ideen zum Heile und zum Unheile der Kirche mannigfach zu verleugnen. Luther, dem die Reformationsordnung zur Begutachtung vorgelegt wurde, widerrieth dem Landgrafen die Anerkennung derselben so ernstlich, daß sie als Ganzes und in ihren wesentlichsten Stücken niemals praktische Bedeutung erhielt. Nur untergeordnete Bestimmungen derselben, welche dazu mit dem wesentlichen Inhalte in gar keiner Verbindung stehen, wie die Bestimmung über Ernennung von Visitatoren, Aufhebung der Klöster, Errichtung einer Universität, Stipendiatenanstalt und Schulen sind zur Ausführung gekommen. Aber auch diese Einrichtungen sind schwerlich kraft der Homberger Ordnung in das Leben getreten.
Interessant ist es übrigens, zu sehen, daß Luther in seiner Kritik nicht die Principien, aus denen sie geflossen, Principien, welche damals ja auch noch mehr als später die seinigen waren – sondern ihre falsche Idealität, ihr Verkennen der wirklichen Zustände und wirklichen Bedürfnisse der Gemeinden, sowie das Abbrechen von der historisch gegebenen Entwicklung und die Aufstellung eines ganzen neuen Systems tadelte. Namentlich wegen des Letzteren glaubte er die Ordnung mißbilligen zu müssen. Je mehr er selbst noch auf eine Aussöhnung mit der alten Kirche hoffte und sowohl in seinem ganzen persönlichen Verhalten als in seinen mit seltener Weisheit abgefaßten kurzen Kirchenordnungen darauf drang, daß mit Aenderungen nur in demselben Grade vorgeschritten werde, in welchem die Menschen durch die Predigt des Evangeliums und die Erneuerung der Herzen vorbereitet seien, um so mehr mußte ihm eine Kirchenordnung, welche zwar mit einem nicht zu verkennenden Talente abgefaßt war, aber mit der ganzen Vergangenheit brach, zuwider sein.
7. Lambert als Professor in Marburg und sein Tod.
Damit, daß die Kirchenordnung von Homberg zurückgelegt wurde, war für Lambert selbst ein Rücktritt, nämlich der von dem Gebiete der praktisch-kirchlichen Thätigkeit verbunden. Gewiß erkannten der Landgraf und dessen Räthe sehr bald, daß Lambert nach seiner ganzen Naturanlage nicht dazu geeignet sei, gestaltend auf das wirkliche Leben einzuwirken. Auch konnte man fortan an eine Verwendung desselben in dieser Richtung um so weniger denken, da nun nach ganz anderen Normen, zum Theil nach solchen, welche mit den Ideen der Homberger Ordnung in Widerspruch standen, voranschritt. Wie hätte Lambert zugemuthet werden können, für diese letzteren einzutreten? Dazu kam nun aber auch, daß der Franzose der deutschen Sprache noch immer sehr unkundig war und schon deshalb unmöglich zum Amt eines Predigers oder Visitators geschickt erachtet werden konnte.
Statt seiner wurden jetzt andere Männer an die Spitze der hessischen Kirche gestellt, Johannes a Campis, Adam Kraft, Tilemann Schnabel, Kymeus, Fontius und Andere. Auch trat jetzt ein confessioneller Rückschlag ein, der zwei Jahre lang nachwirkte. Indem man sich entschloß, auf die Homberger Ordnung zu verzichten und überhaupt, von einer durchgreifenden und systematischen Neugestaltung absehend, nur allmählig vorzugehen, sah man sich auch dazu gedrängt, in jeder Beziehung sich enger an die Sachsen anzulehnen und den von diesen gegebenen Impulsen zu folgen. Die Opposition gegen den Zwinglianismus wurde in Hessen in dieser Zeit sogar eine so große, daß Zwingli’s Schriften verboten und hier und dort zwinglisch gesinnte Prediger ausgewiesen wurden.
Lambert von Avignon wurde, nachdem er eine Zeit lang in Kassel gelebt, wo er in dem früheren Carmeliterkloster wohnte, als Professor der Theologie an der neu errichteten Universität in Marburg bestellt. Wenn irgendwo, schien er gerade hier an seinem Platze zu sein.
Schon in der Homberger Ordnung hatte man, wohl erkennend, daß man die Träger der neuen Ideen auch auf anders eingerichteten und in einem anderen Geiste geleiteten Anstalten heranbilden müsse, die Errichtung dieser Anstalt in das Auge gefaßt und Bestimmungen getroffen, welche ihren evangelischen Character hinlänglich ausprägten. Die Reformationsordnung schrieb nicht nur vor, daß alle Professoren der Universität der evangelischen Lehre zugethan sein mußten, sondern verbot auch gänzlich, daß das canonische Recht auf derselben vorgetragen werde. Die Reformationsordnung sagte unter Anderem: „Weil es Gott gefallen hat, das Herz unseres Fürsten zu bewegen, daß er, da jetzt wieder der Ruhm des Evangeliums aufglänzt, ein Universalstudium zu Marburg aufrichten will, und dieses sehr nothwendig ist, damit in unseren Kirchen diejenigen vermehrt werden, welche in Wort und Lehre ihnen vorstehen können und das Richtige anrathen können, so untersagen wir im Namen Gottes, daß solches daselbst vorgetragen werde, was die Angelegenheiten des Reiches Gottes beeinträchtigen könnte. Vor Allen sollen sich dort Männer befinden, welche die heiligen Schriften ganz rein erklären; im entgegengesetzten Falle sollen sie abgesetzt werden. Sodann sollen daselbst die Civilgesetze vorgetragen werden, so jedoch, daß die gottlosen Cautelen nach Gottes Wort abgethan und überhaupt das, was mit diesem nicht übereinstimmt, verbessert werde. Deshalb sollen solche Rechtsgelehrte berufen werden, welche eben so fromm als gelehrt sind und es verstehen, Gottes Wort als den Maßstab für alle Lehren zur Anwendung zu bringen. Wenn einer von ihnen etwas gegen Gottes Wort behauptet, so soll er aus seinem Dienste entlassen und excommunicirt werden.“ Aehnliche Bestimmungen wurden aber auch in Bezug auf die Lehrer aller anderen Wissenschaften getroffen.
Die Universität, welche mit einer Vorbereitungsanstalt und einem theologischen Seminar verbunden war, wurde unter dem Jubel des hessischen Dichters Eobanus und vieler anderen Männer der Wissenschaft eröffnet. Am 30. Mai 1527 schritt der erste Rector, Ferrarius Montanus, ein Jurist, zur Immatrikulation von 104 Academikern. Am ersten Juli aber erfolgte durch den Kanzler Feige die feierliche Einweihung.
Lambert war nun endlich zu einer gesicherten und ehrenvollen Lebensstellung gekommen, ja hatte einen Wirkungskreis gewonnen, der vor anderen seinen Neigungen und Gaben besonders zusagen mußte. Auch für seinen Unterhalt war mehr als nothdürftig gesorgt. Landgraf Philipp bezahlte die Professoren seiner Universität sehr gut. Man sollte nach allem diesem meinen, daß er nun, zumal da er auch in glücklicher Ehe lebte, sich sehr wohl gefühlt habe. Dennoch muß dieses nicht der Fall gewesen sein. Schon das, daß sein Zuhörerkreis ein sehr geringer war, verstimmte ihn. Mit seinen Collegen scheint er nicht auf dem besten Fuße gestanden zu haben. Einem Theile von ihnen sagte sein sittlicher Ernst und seine Strenge nicht zu, Anderen war seine französische Lebhaftigkeit, Eitelkeit und Zudringlichkeit zuwider, noch Andere endlich, zumal die Humanisten haßten ihn wegen seiner Polemik gegen die Wissenschaft. Der berühmte Humanist Hermann Buschius, ebenfalls ein College, pflegte Lambert die drei M. zu nennen, weil er nur deshalb so oft nach Frankfurt am Main zu reisen pflege, ut Manducet, Mendicet et Mentiatur, nämlich um bei seinen Frankfurter Freunden gut zu essen, die Buchhändler auf ausstehende Gelder zu mahnen und sich von Fremden, namentlich von Franzosen, Neuigkeiten aufbinden zu lassen, die er dann weiter erzählte.
Wir sehen, es wurden in Marburg über ihn Bemerkungen laut, wie die waren, welche das Straßburger Publikum gegen ihn vor den Magistrat gebracht hatte. Und allerdings contrastirte z. B. seine Leckerhaftigkeit stark gegen den sittlichen Ernst, der ihn beseelte und den er auf anderen Gebieten so stark zur Schau trug. Wie er zu Landgraf Philipp in der späteren Zeit stand, ist nicht bekannt. Jedenfalls war dieser gerade nicht erfreut über den Erfolg eines, wie man sagt, von Lambert abgefaßten französischen Büchleins, welches dem Kaiser Namens des Landgrafen von dem hessischen Gesandten Michael von Caden, der 1529 nach Italien geschickt wurde, um Carl den Fünften zu begütigen, überreicht wurde. Der Kaiser erzürnte sich so über dieses die ganze Reformationsangelegenheit besprechende Buch, daß Caden sich kaum durch die Flucht retten konnte. Gewiß hatte Lambert sich einmal wieder von seinem Reformationseifer zu allerlei schlecht überlegten und ungehörigen Raisonnements fortreißen lassen.
Wie sehr man gegen ihn wegen seiner Stellung zur Wissenschaft und wegen mancherlei Anderem eingenommen war, fühlt man auch durch in einem übrigens schönen Briefe, den er von Marburg aus an Friedrich Myconius schrieb. Er lautet:
„Seitdem ich Christum erkannt habe und er mich zu seinem Evangelium berufen hat, habe ich niemals gewollt, daß irgend Jemand, oder auch ich selbst, nach meinem Sinne regiert werde. Mein Wunsch war und ich habe nach Kräften dahin getrachtet, daß ich und Alle durch Gottes Wort regiert würden; ich habe es mit Schmerz empfunden, wenn ich oder Andere an die Stelle der göttlichen Anweisung die unsrige setzten. Deshalb habe ich manchmal gemahnt und getadelt u. s. w. Ich wollte nicht über Jemand herrschen; aber das wünschte ich und wollte ich, und das wünsche und will ich noch, daß Alle dem Worte Gottes gehorchen. Das Entgegengesetzte habe ich an mir und Anderen stets verabscheut. Deshalb habe ich so oft die Trinker, Hurer und Ehebrecher getadelt und behauptet (1. Cor. 5), daß wir mit denen nicht verkehrn dürfen, welche falsche Brüder sind.“
„Niemals habe ich die Gelehrsamkeit oder die Sprachen verdammt, aber ich habe verdammt ihren Mißbrauch und gelehrt ihren rechten Gebrauch, mit Paulus begehrend, daß Alles Allen nützlich werde. Auch habe ich es immer gewünscht und wünsche es noch, daß, wo möglich, Alle darin gelehrt seien. Aber verdammt habe ich immer den Mißbrauch, und verdamme ihn und werde ihn verdammen. Ich erinnere mich nicht, daß ich jemals etwas verdammt oder behauptet habe, wenn ich nicht Gewißheit aus dem Worte des Herrn hatte. Sah ich Andere, die ihm gemäß sprachen, so habe ich sie nicht verdammt, sondern geliebt. Wenn ich sah, daß sie nicht recht geschrieben hatten, so habe ich Niemand namentlich bezeichnet, es sei denn, doch selten, die Scholastiker oder Hieronymus oder Jemand dieser Klasse.“
„Mein Gewissen klagt mich auch nicht darüber an, daß ich nach Annahme des göttlichen Wortes zur Ausbreitung der Ehre Gottes religiöse Bücher abgefaßt und einige Commentare zur heiligen Schrift geschrieben habe. Ich wollte den weniger gelehrten Brüdern nützlich werden, für welche ich mich abarbeitete, gemäß dem Dienste, zu dem mich Gott berufen hat. Und es hat nicht mein Mißfallen, sondern mein Wohlgefallen erregt, wenn Jemand über denselben Gegenstand etwas Besseres geschrieben hat.“
„Ich hasse Niemanden, aber es schmerzt mich und ich muß es beseufzen, wenn ich sehe, daß sehr Wenige der christlichen Freiheit sich in rechter Weise bedienen und daß Liebe fast gar nicht mehr vorhanden ist, aber Alles voll ist von Verläumdungen, Lügen, Schmähsucht, Neid. Dieses hasse ich sowohl an mir als an Anderen.“
„Grüße im Namen Christi von mir und meinem Weibe Doctor M. Luther, Phil. Melanchthon, Joh. Pomeranus, den Doctor Jonas. Hieronymus. Gnade und Friede sei mit Allen, die mit Aufrichtigkeit der Wahrheit anhängen. Von Herzen dein Mitknecht in dem Herrn, Franz Lambert.“
„Was ich auf der Rückseite geschrieben habe, habe ich, wie Gott mein Zeuge ist, nach der Wahrheit geschrieben. Und wahrlich, wer anders von mir denkt und behauptet, behauptet solches im Widerspruche gegen die Wahrheit. Ich bitte aber, daß Niemand hiervon Verschiedenes ausspreche. Denn der Richter Aller weiß, daß ich unschuldig bin an Allem, was dem auf der Rückseite Geschriebenen widerspricht. Gott schone die, welche lügenhafter Weise mich anklagen. Franz Lambert von Avignon.“
Nicht wenig wurde Lambert auch dadurch betrübt, daß die Reformation hier und dort und selbst in Hessen langsamer voranschritt, als er gehofft hatte, und daß alle seine Wünsche für Aufrichtung einer Kirchenzucht so wenig beachtet wurden, oder nicht einmal beachtet werden konnten, ja daß die evangelische Freiheit nicht selten in Zügellosigkeit umschlug. Noch trauriger wurde er darüber, daß so viele Brüder und Landschaften über das Mahl der Liebe stritten, ja sich mit der furchtbarsten Erbitterung bekämpften. In seinem Sendbriefe über des Herrn Nachtmahl klagte er: „Ach, meine Brüder, wann wird uns endlich das Glück zu Theil werden, daß wir unsere Kirchen in dem göttlichen Worte wohl und recht unterrichtet sehen. Wie klein sind die Stücke, die in den verschiedenen Herrschaften dem Wesen der Kirche gemäß eingerichtet sind, ausgenommen allein das äußere Wort Gottes? Wir haben viele Dinge aufgehoben und abgebrochen. Was haben wir aber an deren Stelle wieder aufgebaut? Es ist der Papst in Rom mit seinen verputzten Fürsten fast ganz niedergeworfen, die Klöster sammt den Mönchsorden sind aufgehoben. Die schädlichen Ceremonien und Kirchengebräuche sind abgethan. Daran ist wohl gethan, aber damit ist es nicht genug. Wo ist die rechte Feier des heil. Nachtmahls des Herrn? Wo ist der Bann, welcher allen Kirchen hoch von Nöthen ist? Wollen wir mit denen lästerlich reden, welche wider die klaren Sprüche der heiligen Schrift den gemeldeten Bann thatsächlich verwerfen und ihn, wie oben berührt ist, als Unbildung einer Tyrannei bezeichnen? Das sei fern. Wo ist auch die freie Gemeinschaft der Güter, welche verschafft, daß der Reichen Ueberfluß mit fröhlichem und gutwilligem Mitthellen der Armuth der Dürftigen hilft? Wir haben an vielen Orten Armenstöcke aufgerichtet. Aber sie geben nur Zeugniß, daß die Liebe in Vielen erkaltet ist. Dazu weiß ich wohl, daß auch in dem Amte und Dienste der Kirchen zu viel Mangel ist. Daß er nicht aufgerichtet und geordnet wird, wie er soll, das verhindern auch die, welche die Ersten daran sein sollten. Und wie sind, o gütiger Gott, diejenigen beschaffen, die in vielen Kirchen an die Spitze gestellt sind. Wollte Gott, daß es keine gäbe, welche ihren eigenen Nutzen suchten, sondern das, was des Herrn Jesu Christi und seiner Kirchen ist.“ „Der Fürst (Landgraf von Hessen) hat wohl viele Stücke aufgesetzt und geordnet, sie werden aber nach und nach alle verworfen. Dieses ist aber kein Wunder, dieweil deren Viele sind, welche auch die Gebote Gottes verwerfen und sein Evangelium allein zulassen zu einem Anlasse, die Gelüste ihres Fleisches zu erfüllen. O wie sind wir noch so fern von den Stücken, die uns Christus vorgeschrieben hat und mit seinem und seiner Apostel Beispiel zu thun befohlen! Wie Viele sind deren, die sich rühmen, Christen zu sein, welche Du mit mir beweinst? Die nicht Kinder Gottes, sondern der Welt sind, böser Sitten, Betrüger, begierig nach vergänglichen Dingen, unersättlichen Geizes, ohne alle Liebe, die keinen Bund halten, Lästerer, die öffentlich der Trunkenheit und Gefräßigkeit ergeben sind u.s.w.!“ „Darum, so lasset uns standmüthig, als eine eherne Mauer streiten für das heil. Haus des höchsten Gottes und seine heilige Stadt! Was niedergefallen ist, das laßt uns mit Wachen und höchstem Ernste wiederum bessern und, was weiter zu bauen ist, aufbauen, daß wir nicht ferner bei denen, die draußen sind, also geschmäht und gelästert werden! Wir sollen nicht meinen, daß noch etwas gehandelt sei, wo wir nicht weiter fortfahren. Verflucht sei der, welcher mit den Händeln Gottes liederlich und untreu umgeht!“ Sehr große, ja ungemeine Freude erregte es in Lambert, daß es dem Landgrafen, der seit einem Jahre mit allem Eifer die Beilegung des confessionellen Zwistes anstrebte, gelang, zwischen den sächsischen und schweizerischen Reformatoren das Colloquium zu Marburg zu Stande zu bringen. Dasselbe wurde, nachdem es durch eine Privatunterredung eingeleitet war, vom 2. – 4. October 1529 auf dem Schlosse zu Marburg abgehalten. Lambert gehörte zu den ungefähr fünfzig Personen, welch als Zuhörer zugelassen wurden.
Dieses Gespräch zog nun allerdings bei Weitem nicht die Resultate nach sich, welche man davon gehofft hatte, aber es wurde dadurch doch Einiges erreicht. Schon das war wichtig, daß Landgraf Philipp, der beiden Parteien das Versprechen abnahm, fortan keine Streitschriften mehr zu wechseln, die Aufrichtung einer Art von Waffenstillstand durchsetzte. Sodann kamen fünfzehn Unionsartikel zu Stande, worin beide Parteien öffentlich anerkannten, daß sie in allen Grundlehren völlig, und in der Lehre von den Sacramenten wenigstens theilweise übereinstimmten.
Für Lambert selbst erhielt das Gespräch namentlich dadurch große Bedeutung, daß er nun endlich zu völliger Klarheit und Entschiedenheit in der Abendmahlslehre kam.
Lambert hatte wie er selbst sagt, bis dahin geschwankt; doch scheint er mehr zur lutherischen als zur reformirten Lehre sich hingeneigt zu haben. Die schweizerisch Gesinnten wenigstens betrachteten ihn als einen Lutheraner und erwarteten von ihm für sich nichts Gutes.
Im Jahre 1524 sprach er sich, und wohl gerade deshalb, weil er noch zu keiner ganzen Gewißheit gekommen war, wenn auch in lutherischen, so doch nur in mild lutherischen und eine Vermittlung anbahnenden Worten aus. Jedenfalls ist es auffallend, daß er mit den Straßburgern damals nicht die Anwesenheit des Fleisches und Blutes Christi in und unter dem Brode und Weine, sondern nur die Anwesenheit Christi, der Person Christi, mit dem Brode und Weine betonte. So lehrte er in seinem zu Nürnberg gedruckten Commentare zu Lucas. Ebenso, nur etwas klarer und noch mehr vermittelnd, sprach er sich im folgenden Jahre in der Straßburger Ausgabe desselben Commentares und dann im Jahre 1526 in der Homberger Reformationsordnung aus.
In gewissen Zeiten vertrat er übrigens auch die lutherische Lehre und zwar gemäß seinem lebhaften Temperamente mit entsprechender Entschiedenheit. Gerhard Noviomagus, Professor der Theologie, erzählt einem Freunde von Lambert in einem ungedruckten lateinischen Brief folgende Anekdote: „Du kennst auch (denn ich will das eine oder andere Beispiel hinzufügen; nämlich über den Wechsel der Ansichten in Bezug auf die Abendmahlslehre) Franz Lambert von Avignon, einen ausgezeichnet frommen und für die Erklärung der heiligen Schrift mit nicht geringer Urtheilskraft ausgerüsteten Mann. Als dieser einst auf dem Fürstenconvente, welcher zu Speier von dem mächtigen Könige Ferdinand auf kaiserlichen Befehl abgehalten wurde, von einem gewissen gelehrten jungen Manne besucht wurde, sagte er, bevor er wußte, weshalb er gekommen war: wenn du gekommen bist, mit mir zu reden über die Abendmahlssache, so bitte ich dich, nur wieder fortzugehen und mir keine Mühe zu machen, ich bin in meiner Ansicht sicher, ganz sicher. Nun erhellt aber aus seinen Retractationen klar für alle Welt, wie süß und ganz anders dieser Schwan auf seinem Sterbebette gesungen habe.“
In Folge des Marburger Gesprächs nun entschied er sich für Zwingli und bekannte sich zu dessen Lehre öffentlich in einem schönen Sendbriefe, den er noch vom Todtenbette aus, auf das er schon in den nächsten Monaten niedergeworfen wurde, einigen seiner Straßburger Freunde übersenden ließ, damit sie für den Druck desselben sorgten. „Denn ich will, sprach er, daß die ganze Welt wisse, daß ich, was das Nachtmahl des Herrn betrifft, einer anderen Meinung geworden sei.“ Er drang mit Entschiedenheit auf Einigung der zertrennten Gemüther. In rührender Offenheit stellte er seine bisherigen Zweifel und die dadurch herbeigeführten Kämpfe seiner Seele dar und mahnte in mildem Tone zum Frieden. Der ungenannte Adressat dieses Briefes war wahrscheinlich Nic. Gerbellius in Straßburg. Es soll im folgenden Paragraph daraus Einiges mitgetheilt werden.
Groß war aber die Freude Lambert’s über das Gespräch auch insofern, als es einen Umschwung in den hessischen Kirchenverhältnissen herbeiführte. Landgraf Philipp und viele seiner Räthe und Theologen huldigten von da ab theils dem Zwinglianismus theils der Straßburgischen Lehrauffassung. Alle Verfolgung der Zwinglianer hörte nun auf, und die zwinglisch gesinnten Prediger, welche früher vertrieben worden waren, wurden zurückgerufen. An die Stelle Adam Kraft’s, eines Collegen Lambert’s, der in der letzten Zeit als eifriger Lutheraner aufgetreten war, wurde die Academie, d. h. doch wohl die theologische Facultät mit (dem Examen) und der Anstellung der Geistlichen betraut. Auch Anderes wurde geändert. Es waltete fortan in Hessen ein freierer und milderer Geist, der, wie unangenehme Kämpfe ihm auch durch den Fanatismus der Gegner bereitet wurden, allmählig den Sieg davon trug. Lambert selbst theilt uns Einiges über diesen Umschwung mit, namentlich in einem Briefe, den er Montag nach Reminiscere 4530 an Bucer in Straßburg schrieb. Unter den Schülern, welche in Marburg zu Lambert’s Füßen saßen, und mit ihm in lebendigerem Verkehr standen, befand sich auch Patrick Hamilton, der erste Märtyrer der schottischen Kirche. Er war aus vornehmen Geschlechte, Brudersohn des Grafen von Arras und Sohn der Schwester des Herzogs von Albin, ein begabter, aufrichtiger und geistvoller 23-iähriger Jüngling. Er wurde im Evangelium fest gegründet. In edler Begeisterung verkündigte er nach seiner Rückkehr die seligmachende Wahrheit in Schottland. Als er deshalb vorgeladen wurde, erschien er zwei Tage vor dem festgesetzten Termin vor dem Gerichtshofe. Mit Freudigkeit legte er am Morgen sein Zeugniß ab und schon am Nachmittage desselben Tages hauchte er seine Seele in den Flammen aus (letzte Febr. 1528). Lambert setzte ihm, dem ersten Apostel des Evangeliums in Schottland mit Freude und Wehmuth ein Denkmal in seiner Vorrede zu seinem eben erscheinenden Commentare zur Offenbarung Johannis.
Wie mit Vorlesungen, so beschäftigte sich Lambert auch mit Schriftstellern in Marburg. Die Werke, die er daselbst herausgab, gingen wohl zumeist aus seinen Vorlesungen hervor. Schon von Straßburg aus hatte er in der Nachschrift zu seinem letzten Bande über die kleinen Propheten einen Commentar über den Ezechiel und die Offenbarung Johannes angekündigt. Ebenso hatte er bereits in der Conclusio seiner Paradoxa (Februar 1527) ein Buch de regno, civitate et domo Dei, das in sechsundzwanzig Bücher eingetheilt werden sollte, als bald erscheinend angekündigt. Nun hat er aber nur zwei dieser Schriften, die zweite und dritte, und zwar erst in Marburg, herausgegeben. Ans dem Titel der zweiten Schrift geht hervor, daß sie auf dem Grunde seiner in Marburg gehaltenen Vorträge erwachsen war. Die Schriften, welche Lambert in Hessen auf Veranlassung der Homberger Synode herausgab, sowie seine Sendbriefe über das heilige Abendmahl sind bereits oben erwähnt. Als er starb, fanden sich folgende zum Theil vollendete, zum Theil unvollendete Manuskripte von ihm vor: Commentare zu den drei ersten Briefen des Apostels Paulus, zum ersten Buche Moses, Ezechiel, Jeremias, den Klageliedern des Jeremias, und zum Propheten Daniel. Auch fanden sich zwei französische Bücher, die er zwar nicht geschrieben, aber mit Empfehlungen versehen hatte. Auf seinem Sterbebette beauftragte er einen Freund, den Pfarrer Johannes Steuper, in seinem Namen Bucer in Straßburg zu bitten, daß er diese Arbeiten vollende und nach Anlegung der letzten Feile herausgebe. Auch ließ er Bucer ersuchen, zu seinem Buche über die Klagelieder des Jeremias eine Dedicationsrede an den König von England zu schreiben. Es sollte dieses Werk dem Könige den Beweis liefern, daß diejenigen, welche das reine Evangelium annähmen, nicht verharren könnten in dem alten Sündenleben.
Eine zweite Ausgabe der kleinen Propheten hat Lambert wenigstens in das Auge gefaßt. Er redet davon in dem letzten Band seiner kleinen Propheten.
Daß Lambert aber auch nach dem Colloquium, welches so Manches in einer ihm erwünschten Weise in Hessen anders gestaltet hatte, sich auf seinem Posten und in Hessen überhaupt nicht wohl fühlte, ersehen wir aus einem kurz vor seinem Tode an seinen Freund Bucer geschriebenen, in lateinischer Sprache schon anderweitig veröffentlichten, aber bisher von Niemand gekannten Briefe. Er sagt darin unter Anderem: „Nun aber, lieber Bucer, will ich auch von mir handeln. Ich fühle mich siech und krank, wenn ich meine Lage erwäge. Dem Fleische nach ist ja gut für mich gesorgt, aber fast werde ich vor Trauer verzehrt, daß ich von den mir von Gott verliehenen Gaben nicht zum Nutzen meiner Nächsten Gebrauch machen kann, d.h. daß ich mit keiner der vier von den Gelehrten gewöhnlich erlernten Sprachen, in deren Besitze ich bin, lehrend an die Nächsten herantreten kann. Ich weiß, daß ich dazu von dem Herrn gedrängt werde. Da sich mir nun aber eine erhoffte Gelegenheit nicht darbietet und mich ein besonderer Zwang nicht nöthigt, so harre ich aus in dem mir anvertrauten Berufe.‘ O daß sich doch ein Städtlein in der Schweiz fände, wo ich das Volk lehren könnte nach der Gabe, welche ich vom Herrn empfangen habe. Ich bin jetzt, durch die Wohlthat Gottes, in der Verfassung, daß ich das Vertrauen hege, daß wir in der größten Eintracht Christum lehren werden. Ich verabscheue die Sitten dieses Volkes, so daß ich glaube, daß ich ganz erfolglos lau denselben arbeite. Ich wünsche auch, daß meine Familie, wenn der Herr mich hinweggenommen haben wird, anderswo bleibe und unter Gottesfürchtigen ihren Wohnsitz nehme. Wenn ich unter den Schweizern wohnte, wäre es mir auch verstattet, in freundschaftlich gehaltenen Schriften den Bischof von Lausanne, der ehemals sehr freundschaftliche Gesinnungen gegen mich hegte, und die Genfer (?), welche ich ehemals lehrte (?), zu ermahnen. Auch brauchst Du mein ungestümes Wesen, daß ich so rede, nicht zu fürchten; denn ich habe durch Erfahrung schon Vieles gelernt. Nichts ist geeigneter zu wirksamer Ueberredung als bescheidene und gründliche Unterweisung, wennschon bisweilen der heftigere Angriff und das Schelten nicht entbehrt werden kann.“ Nachdem er dann mitgetheilt hat, daß er eine Uebersetzung und einen Commentar zu den Klageliedern des Jeremias vollendet habe und darauf ausgehe, seine Commentare über die Propheten und das hohe Lied zu verbessern, fährt er fort: „Dieses habe ich hinzugefügt, damit Niemand wähne, daß ich das Studium der Sprachen verfluche. Ich liege ja diesen ob und trage dafür Sorge, daß die Diction in meinen lateinischen Schriften reiner werde, als sie bisher war. Auch glauben wir nicht, daß irgend ein Studium älteren und gottesfürchtigen Leuten unerlaubt sei. Nochmals: ich strebe auch in dieser Richtung; freilich mag es wenig sein, was ich vor mich bringe. Nun Bucer trage gemeinschaftlich mit Capito Sorge, wenn Ihr anders könnt, daß mir eine Stelle zu Theil werde, wo ich das Volk lehren kann. Ich harre unterdessen, was mir Gott nach seiner Gnade durch Euch wird antworten lassen. Den Capito lasse ich durch Dich freundschaftlich und ergebenst grüßen und spreche bei dieser Gelegenheit mein nicht geringes Bedauern darüber aus, daß einst zwischen uns Mißhelligkeiten obwalteten.“
Lambert sollte aus dem Elende, worüber er in diesem Briefe klagte, bald und besser als er zu hoffen wagte, befreit werden. Er starb am 18. April 1530 an dem englischen Schweiße, einer damals, auch schon während des Colloquiums, in Oberhessen wüthenden Pestkrankheit. Der Tod ereilte ihn zu Frankenberg an der Eder, wohin die Universität, da in Marburg die Pest so stark wüthete, auf einige Monate verlegt war. Auf seinem Sterbebette ernannte er einen Freund, den auf einem Dörfchen bei Gießen wohnenden Pfarrer Steuper zu seinem Testamentsvollstrecker. Auch befahl er von seinem Sterbebette aus die Veröffentlichung seines Sendschreibens über das heil. Abendmahl, worin er der evangelischen Kirche ein Testament in höherem Sinne hinterließ. Seine Grabstätte fand er in Marburg in der der Elisabether Kirche gegenüberliegenden Michaeliskapelle. Seine Frau und seine Kinder, auch ein Hausgenosse, der Schotte Gilbert, folgten ihm noch in demselben Jahre im Tode nach.
8. Lambert über das heil. Abendmahl.
Noch finde hier folgender Auszug aus seiner letzten Schrift, nämlich der über das Nachtmahl des Herrn einen Platz:
„Da ich Dir entdeckte, lieber Bruder, daß ich durch die unüberwindliche Kraft des göttlichen Wortes überwunden und mit Gewalt dazu gebracht sei, von meiner früheren Meinung abzufallen, begehrtest Du, daß ich Dir die Ursachen meines Abtretens verzeichne. Ich will dieses, gegenüber Dir, einem verständigen und weisen Manne, mit kurzen Worten thun, ja, da Du sagst, daß Du alle diesen Handel betreffenden Schriften mit Fleiß und Ernst gelesen habest, Dir nur die Gründe vorführen, welche bei mir den Gesinnungswechsel herbeiführten.“
„So viel nun den Handel des Nachtmahls des Herrn betrifft, habe ich gleicher Weise vor Zeiten viel Leidens gehabt, wie auch auf den heutigen Tag Etliche an ihnen selbst empfinden und erfahren, allein das ausgenommen, daß ich die, welche einer anderen Meinung gewesen sind, niemals dem Teufel übergeben habe.“
„Obwohl verwirrt und betrübt, sah ich doch das schon längst ein, daß nicht alle vorgebrachte Argumente stichhaltig seien. Als nun der Landgraf, um die Kirchen zu freundlicher lieblicher Einigkeit zu bringen, beide Parteien hierher zu einer Unterredung berief, „da bat ich den Herrn mit versichertem und vertrautem Gemüthe, daß dasselbe geschehe, und begehrte, daß ich von meiner verwirrten Meinung erledigt würde.“ „Inzwischen hatte ich das steif bei mir beschlossen, daß ich in dem Erforschen der Wahrheit, nicht darauf merken und acht haben wollte, wer Dieses oder Jenes sagte, sondern was da geredet wurde. Und ich bin also an dem Handel gestanden, ihn zu ergründen und habe ein gleiches Herz und eine gleiche Anmuthigkeit zu jeder Partei gehabt, und mir festiglich vorgenommen, ich wollte es mit dem Theile halten, den ich gewißlich sehen würde, daß er mit seiner Meinung mit dem Worte Gottes besser stimmte und demselbigen gleicher und ähnlicher wäre.“ „Denn ich vermeinte, es wäre von Nöthen, daß ich zu diesem Handel käme als ein reines, sauberes, unbeschriebenes Blatt, darauf allein der Finger des lebendigen Gottes schreibe; welches ich, mein geliebter Bruder, auch Dir von ganzem Herzen wünsche. Wirf hierin von Dir alle Menschen, ja wirf ganz und gar von Dir, spreche ich, auch den Luther, damit sie dich nicht verhindern.“ Vor Allem mußt Du Gott anrufen und also handeln, als ob Du von diesen Dingen noch niemals ein Wörtlein gelesen oder gehört hättest. Frage allein den Herrn Jesum und siehe auf den einträchtigen Verstand seiner Worte. „Damit ich nun zur Sache selbst komme; stelle Dir vor, wie ich es gethan habe, als ob Du zur Zeit unseres Herrn Jesu gelebt hättest und ihn selbst gegenwärtig gehört, in dem da er geredet hat, von dem das wir lesen im 6. Kapitel des Johannes, und besonders das vom Essen seines Fleisches und Trinken seines Blutes. Meinst Du nicht, daß Du dieselbigen Worte aus dem, wie er es vorschreibt, verstehen würdest? Denn er hat geschrieben: der Geist, d. i. das geistliche Nießen und Essen, ist das, das da lebendig macht, das Fleisch aber, d. i. das fleischliche Essen ist gar kein nütze. Die Worte, die ich geredet habe, sind Geist und Leben, d i. geistig und Leben bringend. Welches er darum geredet hat, daß er sah, daß der größere Theil seiner Jünger sich verärgert hatte ob dem, das er vorhin von seinem Fleische und Blute geredet hatte; welche er mit diesen Worten auf einen besseren Verstand hat wollen bringen, ihnen anzeigend, daß das, welches sich in seinen Worten grausam und entsetzlich ansehen ließ (denn gibt es etwas Entsetzlicheres und Scheußlicheres als Menschenfleisch essen und Blut trinken?) geistlicher Weise solle verstanden werden. Und ich bin des Vertrauens, daß Du dagegen nichts einzuwenden habest.“ „So Du nun Dergleichen mehr Ihn auf dieselbe Weise hättest vortragen hören, hättest Du Dich daran gestoßen? Gewiß nicht! Denn Du hättest Dich an andere ähnliche Redensarten erinnert, die er gebraucht, und daran, daß er die Gewohnheit habe, bildlich zu reden. Und man hätte Dir gewiß nicht für und für sagen müssen, daß diese Worte figürlich zu verstehen seien: welches ohne Zweifel auch bei den Jüngern der Fall war. Um der Ursache willen, als sie zum Nachtmahl gekommen sind und den alten Gebrauch des Lämmleins erfüllt haben und der Herr jetzt diesen neuen eingesetzt hat, in welchem das Brod und der Wein gemeinschaftlich von den Gläubigen genommen ward und er das Brod seinen Leib und den Wein sein Blut nannte, da hatten die Jünger gewiß nicht so bald jene Redeweise vergessen, daß sie nicht verstanden hätten: dieß sei bildlich gesagt. Und um der Ursache willen, dieweil sie seine Rede gar wohl verstanden, haben sie ihn deßhalben ganz und gar nicht gefragt. Denn aus jener Rede zu den Capernaiten wußten sie wohl, daß er gar nicht wollte, daß sie Menschenfleisch äßen. Es wußte auch der gemeine Mann unter den Juden, daß das figürliche Lämmlein, Pascha, d.i. Ueberschritt, genannt ward, obgleich es allein ein Gedenkzeichen des Ueberschrittes war. Daraus folgt, daß sie es gar nicht für neu achteten, da der Herr die Gedenkzeichen seines Leibes und Blutes, seinen Leib und sein Blut selbst nannte. Zudem ja hörten sie, daß dieses geschehen solle, zu seinem Gedächtniß, wie auch das Lämmlein, dessen Geheimniß sie vorher begangen hatten, zu einer Wiedergedächtniß des Ueberschrittes des Engels, der die Erstgebornen unter den Aegyptern erschlagen hatte, gewöhnlich gegessen ward.“
„Und Du, mein geliebter Bruder, so Du Einer unter ihnen gewesen wärest, hättest Du können einer anderen Meinung sein? Es sei fern von mir, etwas dergleichen von Dir zu muthmaßen. Denn nach dem was ich von Dir halte, hast Du nicht so gar keinen Geist und so gar ein schlechtes Urtheil. Derhalben so würdest Du geglaubt haben, daß hier ein geistliches Geheimniß verhandelt werde und daß das Brod und der Wein figürliche und anbildende Zeichen wären, wie auch die heiligen Apostel und alle die ältesten Lehrer gethan haben, in deren Schriften auch nicht ein Titel vorkommt, woraus mit Gewißheit erschlossen werden könnte, daß sie geglaubt hätten, daß Christus mit seinem Fleische und Blute im Nachtmahle gegenwärtig sei. Dieses habe ich zwar vormals oft und dick betrachtet, aber meine Augen wurden dermaßen gehalten, daß ich auch das, was ich sah in keinem Wege verstehen konnte.“
Im Folgenden wandte sich Lambert gegen die Ubiquitätslehre, d. i. die Lehre von der Allenthalbenheit des Leibes Christi, womit die Lutheraner ihre Abendmahlslehre zu stützen versuchten. Lambert weist nach, daß es mit der Wahrheit der menschlichen Natur streite, wenn man ihr eine allgegenwärtige, den ganzen Raum erfüllende Leiblichkeit beilege.
Im Hebräerbrief heißt es, Christus sei in allen Stücken den Menschen gleich befunden worden, ausgenommen die Sünde. „Daraus folgt, daß Redeformeln, wie: Er ist gekommen, hinweggegangen, hinein oder herausgegangen, abgestiegen, aufgefahren, in ihrer eigentlichen Bedeutung, von einer Veränderung des Ortes verstanden werden müssen, gerade so wie von einem jeden andern Menschen. Zwar seine höchste und göttliche Natur ist nicht der Art, daß sie innerhalb eines Ortes könnte begriffen und verschlossen oder verändert werden, allein die menschliche Natur wird nicht allein von einem Orte zum anderen verändert, sondern auch in einem Orte vergriffen, gehalten und eingezielt.“ Christus erfüllt nach seiner Menschheit nicht alle Orte, welches eine Eigenschaft ist des göttlichen Wesens. In den Himmeln ist er an einem andern Orte, da er sitzt, d. i. regiert zu der Rechten seines Vaters. Denn in den Schriften, welche das Geheimniß unseres Glaubens begreifen, dahat das Wörtlein Sitzen die Bedeutung des Friedens und der Ruhe, und auch des Reiches und der Herrlichkeit. Zu der Rechten aber Sitzen ist nichts Anderes denn Mit-Regieren oder Herrschen.“ „Das Sitzen zu der Rechten des Vaters heißt: Christus, der mit höchster Demuth und Niedrigkeit, mit viel Zwang und unermeßlicher Arbeit den Handel unseres Helles auf Erden vollendet hat, der regiert jetzt in den Himmeln, in der allergrößten Glorie und Ehre mit sammt seinem Vater über Alles, auch des Theils halber so er ein Mensch ist, dieweil er seinem allerhöchsten Vater bis in den Tod des Kreuzes gehorsam gewesen ist.“ Es ist mir zwar wohl bekannt, daß der Arm und die rechte Hand Gottes biswellen für seine Kraft genommen wird. Denn gibt es Jemand, der nicht wisse, daß er keine Glieder hat? Mit diesem Wörtlein aber wird seine Macht angezeigt und bedeutet. Derhalben, so er an allen Orten ist, so muß auch seine rechte und linke Hand und Fuß an allen Orten sein, die von ihm nicht können gesondert werden. Also hat auch der Sohn mit sammt dem Vater eine rechte Hand, darum daß er ein Gott mit ihm ist. Daher, wie man recht und wohl spricht: der Vater ist in dem Sohne und der Sohn in dem Vater, also besteht auch das, so man spricht: der Vater ist zur Rechten oder Linken des Sohnes und wiederum: der Sohn ist zur Rechten oder Linken des Vaters. Denn ohne allen Zweifel ist die rechte Hand des Vaters der Vater selbst und die rechte Hand des Sohnes der Sohn selbst. Die rechte Hand, so sie nach solchem Verstande genommen wird, ist allenthalben. Sie wird aber nicht also genommen, so man spricht: Er sitzt zur Rechten Gottes.“ „So ist denn Christus zwar nach der Gottheit, nicht aber nach der Menschheit an allen Orten. So bekenne ich denn, daß er nach der Menschheit in Weise des Zeichens und nach seiner Kraft und Wirkung indem Nachtmahl gegenwärtig sei, aber gar nicht an ihm selbst oder persönlich und nach dem Orte.“
„Es sind Etliche, welche diese meine Bekehrung für eine Leichtfertigkeit achten, zumal ich mich zuvor nicht lange darwider gesetzt habe.“ Dieweil ich aber in diesem Stücke ein gutes ruhiges Gewissen habe, will ich ihres Urtheils, das nicht bei den Rechtsinnigsten ist, kleine Rechnung haben. Ist etwa Paulus deshalb auch leichtfertig gewesen, daß er von den Pharisäern abgetreten ist, desgleichen wir von der Secte und Rotte der Verberbniß abgewichen? Wenn es mein Gewissen erlaubt hätte, so wäre ich zwar wegen meiner vielen Leibesgebrechen, meiner Armuth und des Nachtheiles einer Flucht, auf meiner vorigen Meinung bestanden und geblieben. Es ist mir aber ein viel Geringeres zu leiden was zu leiden ist, als dem Worte Gottes nicht folgen wollen. Was ist auch für ein Wohlstand so groß in diesem Leben, der mir etwas Nutzen bringen möchte, wenn mein Gewissen inzwischen unruhig ist und in schädlichen gefährlichen Prüften krank liegt?“
„Es ist mein höchstes Begehren, daß wir einträchtig werden, auf daß hiermit den Kirchen und Gemeinden Gottes desto besser geholfen und gerathen werde. So Du hinfür weiter meinen wirst, daß Christus nach seiner menschlichen Natur gegenwärtig in dem ehrw. Nachtmahl sei, will ich Dich um desselbigen willen nicht hassen, sondern für einen Bruder erkennen und halten; aus der Ursache daß ich vermeine, Gewissensangst habe Dich dazu gebracht, daß Du der Meinung seiest, dieweil es Dir anders noch nicht geoffenbaret ist; wiewohl es an Dir, einem so theueren Mann, eine größere Schwachheit ist, als man sie erwartet. So Du aber hiezwischen auch meinethalben also gesinnt bist, will ich es zulassen und ein gutes Vertrauen zum Herrn haben, es werde dazu kommen, daß auch Du die Wahrheit eines Tages eigentlich erkennst.“