Harms: Georg Ludwig Detlev Theodor H., lutherischer Pastor und Gründer der Hermannsburger Missionsanstalt, ist geboren den 5. Mai 1808 zu Walsrode im Lüneburgischen, wo sein Vater damals Rector und Pastor sec. war, † am 14. November 1865 zu Hermannsburg unweit Celle, Provinz Hannover. Ein ächter Niedersachse und Sohn der Lüneburger Heide, aufgewachsen unter strenger elterlicher Zucht in den einfachen Verhältnissen eines kinderreichen Landpfarrhauses, ist er über seine nächste Umgebung wenig hinausgekommen, desto mehr aber mit seinem heimathlichen Boden, mit den Erinnerungen, Anschauungen, der Denk- und Redeweise des Volkes verwachsen. Das Celler Gymnasium, das er nur kurz 1825–27 besuchte, und die Universität Göttingen, wo er 1827–30 Theologie studirte, boten dem eigenartigen und in sich verschlossenen Jüngling einen mannigfaltigen Wissensstoff, aber keine tiefere religiöse oder geistige Anregung. Erst am Ende seiner Studien- oder im Anfang seiner Candidatenzeit (1830) vollzog sich ein Umschwung in dem inneren Leben des jungen Theologen: es erfolgte bei ihm und unter seinem Einfluß bald auch in seiner Umgebung eine jener „Erweckungen“, wie sie damals als Uebergang aus der rationalistischen in die modern-pietistische Strömung mehrfach vorkamen. Als Hauslehrer im Lauenburgischen, im Hause eines Kammerherrn v. Linstow, wurde er bald das Haupt eines kleinen, aber zusehends sich erweiternden Kreises von „Erweckten“. Angeregt vom Missionsinspector Richter in Barmen und von dem Grafen Recke-Vollmerstein gründete er 1834 in Lauenburg einen Missionsverein, der neben der Heidenmission auch Werke der sogenannten inneren Mission mit lebendigem Eifer für die Sache des Reiches Christi, aber noch mit großer confessioneller Weitherzigkeit betrieb. Seit 1839 in seine Heimath zurückgekehrt, wirkte er theils als Gehülfe seines Vaters, theils als Hauslehrer in Lüneburg eifrig und erfolgreich in Predigt und Seelsorge, besuchte arme Kranke und Gefangene, studirte auch fleißig die symbolischen Bücher, wie die altlutherischen Dogmatiker. Dennoch schien sich ihm die Pforte des lebhaft ersehnten Predigtamtes zu verschließen, da das hannoversche Consistorium dem übereifrigen Candidaten, weil er einmal statt einer vorgeschriebenen Gebetsformel ein freies Gebet auf der Kanzel gesprochen, das Predigen bis auf Weiteres verbot. Doch wurde die Maßregel bald wieder zurückgenommen und H. 1844 seinem alternden Vater als Hülfsprediger in Hermannsburg beigegeben, 1849 nach des Vaters Tod auf Wunsch der Gemeinde zum wirklichen Pastor ernannt. Jetzt erst begann seine amtliche Wirksamkeit in der ihm seit langer Zeit wohlbekannten und treu anhänglichen Gemeinde. Er arbeitete mit unermüdlichem Eifer nicht blos in den kirchlichen Gottesdiensten, die fast den ganzen Sonntag ausfüllten, sondern auch in der Seelsorge, wobei seine volksthümliche Art des Verkehrs, seine aufrichtige Freundlichkeit, seine aufopfernde Liebe ihm die Herzen gewann. Eigenthümlich waren insbesondere die Versammlungen, die er Sonntag Nachmittags in seinem Hause in ganz freier, durchaus nicht conventikelartiger Weise mit seinen Gemeindegliedern und fremden Besuchern hielt und bei denen seine populäre Unterhaltungs- und Erzählungsgabe am glänzendsten sich entfaltete. Viele seiner Erzählungen, meist in plattdeutscher Sprache, die er meisterhaft handhabte, sind später gesammelt und herausgegeben worden (Honnig. Vertellen und Utleggen in sin Modersprak von Louis Harms, 2. Aufl. 1871; „Goldene Aepfel in silbernen Schalen“, 6. Aufl. 1875). Seine Hauptstärke aber lag in seinen Predigten, von denen er selbst zwei Sammlungen herausgegeben hat, die jetzt zu den verbreitetsten Predigtbüchern, wenigstens in der evangelischen Kirche Norddeutschlands, gehören: „Evangelienpredigten“, 1858 ff.; 8. Aufl. 1877; und „Epistelpredigten“, 1862 ff. (weitere Sammlungen sind aus seinem Nachlaß herausgegeben, jedoch von geringerem Werth). Homiletisch betrachtet, sind diese Predigten keine Kunstwerke: die Exegese mangelhaft, der Gedankenkreis eng, oft sich wiederholend; ihr Vorzug aber ist einfache Hervorhebung der christlichen Grundwahrheiten, conkrete Erfassung des Lebens, ein kräftiger, oft massiver Realismus, vor allem aber ihre einzigartige Volksthümlichkeit. Wie kaum ein Anderer seit Luther hat H. es verstanden, dem Volke zu predigen und speciell dem niedersächsischen Landvolk, den Bauern der Lüneburger Heide in schlichter, lebendiger, durchaus auf den Hörer berechneter, ebendarum aber auch Jedem verständlicher Weise vom Herzen zum Herzen zu reden. Die Frucht solcher Arbeit trat denn auch bald zu Tage. Es ging eine merkliche Umwandlung mit der Gemeinde vor: regelmäßiger Kirchenbesuch, Hausandacht, strenge Sonntagsfeier, häufiger Abendmahlsbesuch wurde Sitte, es entfaltete sich eine rege Liebesthätigkeit und großartige Opferwilligkeit und in weitem Umkreis übte sein Wort und Beispiel seinen Einfluß. Ganz besonders aber war es auch jetzt wieder das Werk der Heidenmission, das für H. und seine pastorale Wirksamkeit Beides zugleich war – Mittel und Zweck. Denn so hat er das Verhältniß der Mission zur Gemeinde sich gedacht: seine Gemeinde sollte eine Missionsgemeinde werden, die Mission eine gemeindliche. Erst nachdem er 1849 nach seines Vaters Tod wirklicher Pastor in Hermannsburg geworden, griff er das Werk an: nicht einer der bestehenden Missionsgesellschaften will er sich anschließen, sondern ein eigenes Missionshaus gründen; die Mission soll sich verbinden mit der Colonisation; die Missionsgemeinde soll aus der Muttergemeinde hervorwachsen, ihr Bekenntniß, wie ihren Lebensordnungen sich anschließen; die Heidenbekehrung soll ein ächt kirchliches Werk sein und bleiben, auf dem lutherischen Bekenntniß ruhen, durch die Bestätigung der landeskirchlichen Behörde ihre Weihe empfangen. Zunächst war es das südliche Afrika, das H. als Feld für seine Mission ins Auge faßte; später kamen weitere Stationen in Asien, Amerika, Australien hinzu. Um den Verkehr zwischen den transatlantischen Stationen und dem Mutterland zu vermitteln, ließ H. 1853 aus Missionsgeldern ein eigenes Missionsschiff (die „Kandace“ nach Ap.-Gesch. 8, 27) in Harburg bauen, das im J. 1854 acht Missionaire und acht Colonisten nach der Ostküste Afrika’s brachte; 1856 ging eine zweite, 1858 eine dritte Sendung ab. Ueber die weiteren Schicksale und Erfolge der Hermannsburger Mission zu reden, ist nicht dieses Ortes; vgl. darüber das im Verlage des Missionshauses erscheinende Missionsblatt (25. Jahrgang, 1878). Hier mag die Bemerkung genügen, daß die beiden eigenthümlichen Ideen Harms’, der Gedanke der Colonialmission, wie die Idee einer Eingliederung der Mission in die Landeskirche, sich nicht verwirklicht haben: die christliche Colonisation und Civilisation der Zulu’s und Papua’s blieb bis jetzt bekanntlich frommer Wunsch; die landeskirchliche Eingliederung der Hermannsburger Mission aber ist neuestens in Folge der Renitenz seines Bruders und Nachfolgers Theodor H. in das gerade Gegentheil umgeschlagen, die Separation eines Theils der Hermannsburger Gemeinde von der hannoverschen Landeskirche und die officielle Lossagung der letzteren von der Hermannsburger Mission (1878–79). – Louis H. ist bei seiner ohnedies schwächlichen Constitution dem Uebermaß von Arbeit und geistiger Anspannung, das er sich durch Pfarramt, Mission, schriftstellerische Thätigkeit, ausgedehnte Correspondenz etc. jahrelang zumuthete, im 58. Lebensjahr erlegen. Sein Andenken bleibt bei Allen, die ihn kannten, im Segen, und auch die hannoversche Landeskirche wird des ihr von Hermannsburg aus zugeflossenen geistlichen Segens nicht vergessen, obwol es von dort aus zur Separation gekommen und obwol in dieser Spaltung das Einseitige und Ungesunde, was von Anfang an in der Hermannsburger Erweckung, wie in dem dortigen Missionsbetrieb lag, nur eben offen zu Tage getreten ist.
Siehe hierüber, wie über das Ganze die auf persönlicher Bekanntschaft und auf amtlichen Acten ruhende Darstellung von Abt Uhlhorn in der R.-Enc. f. prot. Theol. 2. Aufl. Bd. V. S. 621 ff. Nur mit Vorsicht ist zu benutzen die von dem Bruder Theodor Harms herausgegebene Lebensbeschreibung, Hermannsburg 1868; 4. Aufl. 1874; vgl. auch Zum Gedächtniß des sel. P. Harms zu Hermannsburg. Separatabdruck aus den viertelj. Nachrichten, Hannov. 1866; Zur Erinnerung an L. Harms in N.Ev.K.Ztg. 1866, Nr. 4 ff.; Allg. K.Ztg. 1865, S. 758. Eine Sammlung seiner Briefe ist im Verlag des Hermannsburger Missionshauses erschienen, wo auch seine übrigen Schriften in fortwährend neuen Auflagen zu haben sind.
Wagenmann.