Philipp Jakob Spener

Philipp Jakob Spener

Oberhofprediger zu Dresden, später Propst zu Berlin

(Geb. 13. Jan. 1635, gest. 5. Febr. 1705.)

„Gleichwie der Leib ohne Geist todt ist, also auch der Glaube ohne Werke ist todt.“
(Jak. 2, 26.)

Philipp Jakob Spener wurde am 13. Januar 1635 zu Rappoltsweiler im Oberelsaß geboren. Seine frommen Aeltern, der gräfliche Rath Johann Philipp Spener und Agatha, widmeten ihr Kind dem Herrn, von dem sie es empfangen hatten, daß er einst Prediger seines Wortes werden sollte. Gern hat er deswegen das Wort des Apostels Paulus auf sich angewandt: „Da es aber Gott wohlgefiel, der mich von meiner Mutter Leib hat ausgesondert, und offenbarte in mir, daß ich ihn durch das Evangelium verkündigen sollte, also fuhr ich zu, und besprach mich nicht darüber mit Fleisch und Blut.“ Die verwittwete Gräfinn von Rappoltstein, der das Städtchen Rappoltsweiler gehörte, übernahm Pathenstelle bei dem Knaben, und als solche hat sie, wie es leider jetzt wenig geschieht, sich bestrebt, ihn zu seinem Heilande hinzuführen. Er mußte fast täglich zu ihr aufs Schloß kommen. Dann erzählte er ihr, was er des Tages gelernt und erlebt hatte, und sie ermahnte ihn, wie eine Mutter ihr Kind. Der Abschied von seiner Pathin war der erste Schmerz, der ihn traf. Im November 1648 hatte er acht Tage lang nicht zu ihr kommen können, weil sie krank darnieder lag. Aber da verlangte es sie, ihn noch einmal zu sehen, und sie ließ ihn aufs Schloß kommen. Sie lag todtenbleich auf ihrem Bette, legte stumm, – denn sie konnte schon nicht mehr reden, – ihre Hand auf des Knaben Haupt, und gab ihren Geist auf. Tief erschüttert stand Spener da; er verlor alle Lust zum Leben, und wollte auch sterben. Lange trauerte er, und konnte vor Schwermuth nicht an seine Arbeiten gehen, denen er sonst mit großem Eifer oblag.

Unter den Augen seiner Aeltern wuchs der Knabe in der Furcht Gottes heran. Eine ungeheuchelte Demuth, eine ernste Gewissenhaftigkeit, eine heilige Furcht vor der Sünde begleiteten ihn auf allen Schritten und Tritten. Er war noch keine zwölf Jahre alt, da floh er erstarrt von einem Tanzlokale, als dem Orte, wo der Satan schon viele tausend Seelen zu Falle gebracht hat. „Weg mit der Thorheit!, sagte Spener, ich habe so viel mit der Besserung meines Herzens und mit dem Tode zu thun, daß ich des Tanzens wohl vergesse.“ er hat seitdem an solchen Vergnügungen nicht mehr Theil genommen; noch kurz vor seinem Tode erzählte er Freunden davon, um zu zeigen, daß er in seiner Jugend auch böse gewesen sei. Spener kannte bessere Freuden und Erholungen. Wenn er seine Arbeiten fertig hatte, so dichtete er fromme Verse. Doch hat er, ehe er das älterliche Haus verließ, alle seine Lieder verbrannt. Sie befriedigten ihn nicht, uns sollten Andern nicht zur Last fallen. Auch später hat er noch viele seiner Werke vernichtet. Möchten ihm doch darin viele unserer heutigen Dichter nachfolgen!

Im Mai 1650 bezog Spener, gründlich von dem frommen gräflichen Hofprediger, Stoll, seinem nachmaligen Schwager, vorbereitet, das Gymnasium zu Colmar, und Ein Jahr später die Universität Straßburg. Hier wurde er von seinem Oheim, dem Professor der Rechte, Johannes Rebhahn, wie ein Sohn aufgenommen. Er mußte bei ihm wohnen, und an seinem Tische essen, und durfte, was ihm noch besonderer Wichtigkeit war, noch Belieben seine große Büchersammlung benutzen, erhielt auch väterlichen Rath und Anleitung in seinen Studien.

Während sonst auf den Universitäten unter den Studenten viel Leichtsinn und Rohheit zu Hause ist, stand Spener unter ihnen, wie eine Blume in der Wüste. Schon sein Lehrer Stoll hatte ihm gesagt: „am Sonntage dürfe man nichts thun, wodurch man gelehrter, sondern nur das, wodurch man besser und frömmer werde.“ Dieses Wort bewahrte er in einem feinen, guten Herzen. Wenn er den öffentlichen Gottesdienst, den er nie ohne Noth versäumte, besucht hatte, so verwandte er die übrigen Stunden für den stillen Gottesdienst in der Kammer, weil der ganze Tag dem Herrn gehöre. Dann las in er in der heil. Schrift, oder auch in Erbauungsschriften. Bald sammelten sich um ihn gleichgesinnte Freunde. Da kamen sie zusammen, sangen, beteten, und betrachteten gemeinschaftlich die h. Schrift. Einer um den Andern erklärte eine Bibelstelle, wozu sie sich schriftlich vorbereiteten. So konnte Spener später schreiben: „Ich kann meinem Gott für den bei dieser Sonntagsfeier während meiner Universitätszeit mir ertheilten Segen nimmermehr zur Genüge danken. Ach, der Herr erbarme sich doch in diesem Stücke der Verderbniß unsers Christenthums auf den Schulen!“ – Und vom Sonntage aus verbreitete sich eine Gottesruhe und rüstige Arbeitsfreudigkeit über die Wochentage. Mit seinen Genossen kam er nicht viel zusammen. Am liebsten saß er wochenlang ohne Unterbrechung hinter seinen Büchern, in seiner „so süßen Einsamkeit,“ wie er selbst sagt. Da dieser eiserne Fleiß durch ein glückliches Gedächtniß unterstützt wurde, so konnte es nicht fehlen, daß er sich einen seltenen Vorrath von Gelehrsamkeit sammelte. Drei Jahre brachte er mit den Vorwissenschaften zur Gotteslehrsamkeit zu. Besonders trieb er das Hebräische und Griechische; jene Sprache wurde im schon nach drei Viertel Jahren so geläufig, daß er Erklärungen des Alten Testaments darin vortragen konnte. Mit großem Eifer trieb er auch Geschichte, und da zog ihn vor Allem die Geschichte unsers deutschen Volkes an. Er war noch nicht achtzehn Jahre alt, so wurde ihm schon der Ehrenname eines Magisters zu Theil, mit dem das Recht verbunden war, andern Studenten Vorträge zu halten. So ausgerüstet, gab er sich erst im vierten Jahre seiner Studienzeit an das besondere Studium der Theologie. Da hat er mit seiner Vernunft, welche sich nicht beugen wollte unter den Gehorsam des Glaubens, manche Kämpfe durchmachen müssen. Aber er hielt fest am Gebet, indem er hoffte, daß sein Glauben den festen Anker wiederfinden würde. Und der Herr ließ es dem Aufrichtigen gelingen, sodaß er die Weisheit dieser Welt für Thorheit erkannte, und sich nur um so fester auf seinen Herrn und Meister gründete.

Da Speners Aeltern viele Kinder hatten, so konnten sie ihn nur wenig mit Geld unterstützen. Deswegen ertheilte er wohlhabenden Studenten Unterricht, und machte es sich möglich, auch die Universitäten zu Freiburg, Tübingen, Genf und Basel zu besuchen. An allen diesen Orten hielt er mit vielem Beifall Vorlesungen über verschiedene Gegenstände der Theologie.

Im Jahre 1654 wurde Spener der Hofmeister der beiden Brüder, Herzog Christian und Ernst Johann Karl, Pfalzgrafen bei Rhein, die unter seiner Leitung in Straßburg ihre Studien betrieben. Nachdem er anderthalb Jahre dies Amt gewissenhaft verwaltet hatte, zogen jene nach Frankreich. Spener ging auf den Rath einiger Lehrer nicht mit, weil sie meinten, er werde in dem verweltlichten Frankreich eher Rückschritte als Fortschritte machen. In dieser Zeit, am Johannistage 1655, hielt er seine erste Predigt über Luc. 1, 74. 75. „Daß wir, erlöset aus der Hand unserer Feinde, ihm dieneten ohne Furcht unser Lebenlang, in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist.“ Er bekannte später, daß ihm Gott durch diesen Text die Summe dessen vor die Seele geführt habe, was zu lehren, vorzugsweise seine Lebensaufgabe seyn würde. Uebrigens predigte er als Student sehr selten. Höchstens alle Vierteljahre ließ er sich dazu bewegen. „Er müsse durchaus erst selbst lernen, bevor er andern predige,“ war seine Meinung. ER schrieb seine Predigten vorher immer ganz nieder, und hielt sie wöchentlich, wie er sie abgefaßt hatte. Wenn er einmal auf der Kanzel ein nicht geschriebenes Wort vorbrachte, so merkte er es hernach in seinem Manuscipte an, „um immer auf das Genaueste zu wissen, was er an heiliger Stätte geredet.“ Er betrat nie die Kanzel ohne Furcht, er möchte stecken bleiben. Diese Schüchternheit hat ihn auch im Alter nicht verlassen.

Spener fuhr mit rastlosem Eifer in seinen Studien fort, sodaß seine Gesundheit anfing, geschwächt zu werden. Dies wurde bald noch schlimmer durch die Uebungen in der Mäßigkeit, die er anstellte. An jedem Sonntage genoß er den ganzen Tag auch nicht das Geringste, und erst des Abends besänftigte er den beißenden Hunger durch einen Bissen Brodes. Dies hielt er, ohne ein Gelübde abgelegt zu haben, Ein volles Jahr aus. Da brachen seine Kräfte fast zusammen, sodaß er ärztliche Hülfe suchen mußte. Er bereute bitter diesen frommen Unverstand, durch den er seinem Leibe so großen Schaden zugefügt hatte.

Da durch seine jahrelange Zurückgezogenheit seine natürliche Schüchternheit sich von Tage zu Tage steigerte, so redeten ihm seine Verwandten zu, da sie meinten, er mochte zur Führung eines kirchlichen Amtes unbeholfen werden, eine größere Reise nach Frankreich zu unternehmen. Nach langem Sträuben ließ er sich überreden, und Ostern 1660 trat er die Reise an, zunächst nach der Schweiz. Aber in Genf überfiel ihn eine heftige Gichtkrankheit, daß er drei Monate lang im Bette liegen, und die heftigsten Schmerzen erdulden mußte. In Folge dessen stand er von seiner Reise nach Frankreich ab, besuchte noch verschiedene Orte in der Schweiz, und kehrte im November 1661 nach Straßburg zurück. Diese Reise ist von dem größten Einflusse für sein künftiges Leben gewesen. Viele berühmte und gelehrte Leute hatte er kennen gelernt. Besonders war man ihm in Genf mit großer Liebe entgegen gekommen. Nicht allein die Professoren, sondern auch die Vornehmsten der Stadt hielten ihn ihrer Freundschaft werth. Er aber wurde durch solche Ehren desto demüthiger, und pries die gnädige Gottestreue, die ihm fremde Herzen so liebreich aufgeschlossen hatte.

Unterdeß war Spener in’s zwölfte Jahr Studiosus der Theologie. Er war fest entschlossen, sich in seinem Leben niemals um ein geistliches Amt zu bewerben. Denn er lebte der innersten Zuversicht, daß der Herr der Kirche diejenigen, die er zu Verkündigern seines Worts haben wolle, auch schon selbst suchen und hervorziehen werde. Zudem war ihm der Gedanke, der vor Gott verantwortliche Seelsorger einer ganzen Gemeinde zu werden, zu schwer und zu gewaltig. „Der Herr möge ich doch nicht zu einem so schweren Amte ausersehen, und ihm einen solchen geistlichen Wirkungskreis erweisen, wo er zwar Arbeit, und selbst die schwerste, aber nur keine Seelsorge zu übernehmen habe,“ das war sein stetes Anliegen an Gott. Als im Jahre 1663 die Frühpredigerstelle an der Thomaskirche in Straßburg, mit der keine Seelsorge verbunden war, erledigt wurde, wurde er ohne sein Zuthun für dieselbe berufen. Drei Jahre lang hat er im Segen in Straßburg gewirkt. Während dieser Zeit ließ er sich zum Doktor der Theologie ernennen, und trat in den Ehestand, beides auf Einen Tag, und zwar auf dringliches Verlangen seiner Verwandten und Freunde. Denn gegen das erste sträubte sich seine Bescheidenheit und Demuth, gegen das zweite seine natürliche Scheu und das Mißtrauen in sich selbst, daß er kein Weib würde glücklich machen können. Jungfrau Susanna, Tochter Johann Jakob Erhardt’s , welcher Mitglied der Stadtbehörde war, wurde am 23. Juni 1665 Speners Ehefrau. Ihre Ehe war eine überaus glückliche und gesegnete.

Im Jahre 1666 wurde Spener als Pfarrer und Senior des geistlichen Ministeriums nach Frankfurt am Main berufen. Ehe er den Ruf annahm, befragte er auf’s Strengste sein Gewissen, ob derselbe von Gott käme, und wollte die Entscheidung der beiden Städte Straßburg und Frankfurt die Stimme Gottes seyn lassen. Erst, nachdem dies geschehen war, schrieb er: „Ich habe redlich im Namen des Höchsten, mit welchem ich in meinem Gebete dieses ganze Werk bisher fast allein bedacht habe, diesen Entschluß gefaßt einem anerkannt göttlichen Berufe, wie es ohnedies die Gewissenspflicht mit sich bringt, nicht aus dem Wege zu gehen, sondern ohne Rücksicht auf alles Andere der Stimme dessen zu folgen, der, wie er mich Anfangs hier auf die Kanzel durch ordentlichen Beruf gesetzet, also seine ungebundene Hand über seinen Knecht sich vorbehalten hat, ihn auch anders wohin nach seinem Willen zu schicken.“ Es war keine geringe Aufgabe für Spener, sein neues Amt mit freudigem Muthe anzutreten. Er sollte als ein junger Mann von ein und dreißig Jahren, ohne besondere Erfahrungen, den Vorsitz in dem Kirchenrathe führen, dessen Mitglieder zum Theil doppelt so alt waren, wie er selbst. Da errang er sich im Gebet Licht und Kraft von Oben. Und der Segen Gottes floß reichlich auf seine Arbeit nieder.

Er fing an, da Wort Gottes muthig zu reden zur Zeit und Unzeit, nicht das, wonach den Leuten die Ohren jücken, sondern das, was sie zu einem neuen Leben wiedergebären kann. Aber er war nicht nur ein guter Hirte auf der Kanzel, sondern, was ungleich wichtiger ist, auch unter der Kanzel und in den Häusern. Im August 1670 kamen einige Männer zu ihm, um ihm ihre Noth zu klagen wegen Mangels an christlicher Geselligkeit. Ueberall, sagten sie, wo man mit Leuten zusammen käme, würde nur über eitle und nichtige Dinge gesprochen. Wenn aber Einer von der Gottesfurcht spreche, der werde verspottet. Sie wünschten sehnlichst eine Gesellschaft zu finden, wo man frei über das Eine, was Noth thue, sprechen könnte. Spener erbot sich mit Freuden, die Heilsbegierigen in seiner Studierstube zu empfangen, mit die Versammlungen zu leiten. Diese fanden im Angang Montags und Mittwochs statt. Montags wiederholte er die Predigt, um sie dadurch tiefer in die Seele seiner Zuhörer einzudrücken. Dann wurden Stellen der h. Schrift vorgelesen, und in freier, brüderlicher Besprechung erbaulich erklärt. Diese Versammlung hieß man collegia pietatis, d. i. fromme Zusammenkünfte. Anfangs nahmen nur Wenige daran Theil; später wurden sie äußerst zahlreich von allen Ständen besucht, von Studenten, Juristen, Medicinern, Kaufleuten, Handwerkern, Beamten, Männern und Frauen, Greisen und Kindern. Die Frauen hatten einen besonderen Platz, wo sie den Blicken der Männer so ziemlich verborgen blieben. War ein Abschnitt der h. Schrift vorgelesen, so „bringen die Geübteren, sagt Spener, ihre Meinung zu Diesem oder Jenem vor. Alles in größter Einfalt. Will Jemand etwa bloß neugierige, spitzfindige, und zur Erbauung undienliche Fragen thun, so werden diese sogleich abgeschnitten, und gezeigt, wie wir durch Besprechung solcher Dinge z u unserer Besserung nicht das Geringste gewinnen… Sorgfältig wird verhütet, daß in unserer Versammlung sich Niemand ein Urtheil über irgend einen Mitbruder erlaube, welches das Gefährlichste seyn, und das ganze gute Vorhaben zerstören würde; sondern wir haben in solcher Uebung allein mit uns selbst zu thun, und es wird nur im Allgemeinen gezeigt, wie ein Jeder seine christliche Liebe in sanftmüthiger Zurechtweisung seines irrenden Bruders erweisen möchte und müßte. Dadurch wird auch dahin gearbeitet, daß unter denen, die zusammen kommen, eine viel innigere, christliche Freundschaft gestiftet werde, sodaß Jeder aus herzlicher Liebe auch auf seinen Mitbruder Acht gebe, und wo er ihn in Gefahr, oder auf Irrwegen sieht, ihn brüderlich erinnere, der Andere aber solche aus liebreichem Vertrauen kommende Zurechtweisung auch brüderlich aufnehme.“

Die collegia gewannen bald eine solche Bedeutung, daß alle Fremden, die nach Frankfurt kamen, nicht eher wieder abreisten, bis sie dieselben besucht hatten. Und so wurde fast keine Zusammenkunft gehalten, wo nicht fürstliche, königliche, kaiserliche Räthe und Minister, selbst Grafen und Fürsten, außerdem Professoren, Superintendenten und Prediger aus allen Gegenden Deutschlands daran Theil genommen hätten. So wurden sie ein Salz der evangelischen Kirche. An vielen andern Orten, in Augsburg, Essen, Wertheim, Hamburg, Amsterdam, Nymwegen u. a. wurden sie eingerichtet.

Aber ohne Widerstreit räumte der böse Feind dem Herrn das Feld nicht. Man nannte Spener und seine Genossen Quäker; weithin verbreitete sich das Gerücht von einem Frankfurter Schwarm, dessen Vater Spener sei. Es gab keine Verlästerung oder Verläumdung, mit der der aufrichtige Knecht Gottes nicht überschüttet wurde. Nun waren freilich Einige unter denen, die seine Versammlungen besuchten, die die evang. Kirche für Babel erklärten, und deswegen meinten, aus derselben austreten zu müssen. Spener selbst aber erkannte bald die große Gefahr, die daraus für die Kirche Gottes hervorging, predigte mit allem Eifer in Wort, That und Schrift dagegen, und ließ es nicht besonderen Ermahnungen, Bitten und Warnungen gegen Einzelne fehlen. Es that ihm bitter weh, daß er so viel Undank und Verläumdung erfahren mußte. „Es kann Niemand ermessen, sagt er einmal, wie mir oft zu Muthe gewesen, wie ich mich als Prediger einem Schiffer ähnlich sahe, der das Ruder verloren hat, und nur allein Gottes Regierung sich und sein Schifflein übergeben muß. – Ich muß es also Alles auf Gebet und Geduld ankommen lassen, bis der Herr andere Wege zeigen wird.“

Da fügte es sich, daß im Jahre 1675 ein Buchhändler eine neue Ausgabe von Arndt’s Postille vom wahren Christenthum veranstalten wollte, und Spenern bat, dieselbe mit einer Vorrede zu versehen. Aber noch in demselben Jahre ließ Spener, auf dringendes Verlangen Vieler, diese Vorrede als eine besondere Schrift erscheinen, die den Titel führt: Pia desideria (d. i. fromme Wünsche), oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren, evangelischen Kirche, nebst einigen dahin abzweckenden christlichen Vorschlägen. In dieser Schrift schüttet er sein ganzes Herz aus. Er schildert darin den verderbten Zustand der deutschen, evangelischen Kirche, und geht dann dazu über, folgende sechs Heilmittel vorzuschlagen:

1) Das Wort Gottes muß reichlicher unter die Gemeinden gebracht werden, und zwar dadurch, daß in der Familie die h. Schrift und besonders das neue Testament fleißig gelesen werde. Auch sollten zu gewissen Zeiten in der Gemeinde die biblischen Bücher nach einander ohne weitere Erklärung verlesen, und die kirchlichen Versammlungen, wie sie Paulus 1. Cor. 14,26 ff. beschreibt, wieder eingeführt werden.

2) Die Aufrichtung und fleißige Uebung des geistlichen Priesterthums. Das heißt: die ganze Gemeinde soll an der Auferbauung des Reiches Gottes Theil nehmen, weil nicht nur der Priester, sondern alle Christen von ihrem Erlöser zu Priestern gemacht, mit dem h. Geist gesalbt, und zu geistlichen und priesterlichen Verrichtungen berufen sind.

3) Den Leuten muß eingeprägt werden, daß das Christenthum nicht im Wissen, sondern in der That bestehe.

4) Weisliches Verhalten in Religionsstreitigkeiten. Dies besteht in eifrigem Gebet für die Irrenden, in steter Vorschrift, alle Aergernisse zu meiden, in einer zwar bescheidenen, doch nachdrücklichen Vorstellung unserer Wahrheit, die wir bekennen; Alles mit herzlicher Liebe gegen alle Ungläubigen und Irrenden.

5) Christlichere Erziehung der Hirten des Volks auf Schulen und Universitäten.

6) Die Predigten sollten erbaulich seyn, damit ihr wahrer Zweck: Glaube und dessen Früchte befördert werde. Außerdem drang er noch auf Wiederherstellung der Kirchenzucht und bessere Erziehung der Kinder.

Dies ist ein kurzer Auszug aus Speners: pia desideria. Diese Schrift erregte das größte Aufsehen in der ganzen evang. Kirche. Eine große Zahl hochgestellter Geistlichen, Professoren, Generalsuperintendenten, Consistorialräthe, Stadt- und Hofprediger gaben ihre freudige Theilnahme kund. Acht Universitäten sprachen ihre Billigung aus. Die Briefe, die an Spener kamen, häuften sich so, daß er sie bald nicht mehr bewältigen konnte.

Auf der andern Seite aber erhob sich ein scharfer Widerspruch. Speners Lehre wurde nicht allein verdächtigt, sondern als eine durchaus ketzerische verschrien, durch die der evangelischen Kirche die größte Gefahr entstehe; nur wollte Keiner die Ketzereien nachweisen. Am meisten that es Spener wehe, daß einige Geistliche es am Aergsten trieben. Er hatte frei und muthig das Verderben des geistlichen Standes aufgedeckt. Das erbitterte sie gewaltig; den sie waren nicht gesonnen, sich zu bessern. Dazu kam die Furcht, daß die Gemeinden selbst von ihnen andere Predigten und ein anderes Leben verlangen würden. Unter ihnen machte sich am lautesten ein Diakonus in Nordhausen, Dilfeld. Er führte den Streit auf höchst gehässige Weise; aber in Speners Antworten paarte sich Liebe, Milde und Sanftmuth, sodaß jener wider Willen Steine zum Bau des Gottesreichs herbeitragen und schweigen mußte. Und als drei Jahre nachher in Nordhausen die Pest ausbrach, und Spener daran gedachte, daß sein Gegner in seiner Verblendung von Gott abgerufen werden möchte, schrieb er ihn an, und ermahnte ihn mit liebreichen Worten zur Buße. Dilfeld antwortete zuerst trotzig, erklärte aber endlich, der Streit gereue ihn, und starb bald darauf.

So wirkte Spener durch die Schrift; und seine Kämpfe dienten nur dazu, die Wahrheit in desto helleres Licht zu setzen. Er selbst aber entschlug sich alles Ruhms; nur freute er sich in Demuth, Gottes Streiter und Rüstzeug zu seyn. Was er schrieb, das lebte er auch. Einige Male brachen in Frankfurt pestartige Krankheiten aus. Da gingen seine Amtsbrüder, aus Furcht für Leben, weniger zu den Kranken. Spener aber wanderte oft ganze Tage von Haus zu Haus, tröstete, theilte das h. Abendmahl aus, und saß lehrend und betend an den Betten der Kranken. Er blieb von den Seuchen verschont, aber seine Kräfte brachen durch die Anstrengungen zusammen. Gegen Ende 1678 wurde er neun Wochen auf das Krankenlager geworfen. In der Adventszeit 1684 wurde er abermals von einer heftigen Krankheit ergriffen, die ihn dreißig Wochen lang ans Bett fesselte. Alle Arznei war vergeblich; der Tod schien gewiß. Erst gegen den Frühling brach sich die Krankheit. Als er genesen war, sagte ein Freund zu ihm, er hätte gewiß während seiner Krankheit einen Blick in die Ruhe der Heiligen gethan: „Ach! seufzte Spener, diese Gnade ist mir nicht widerfahren. Alles, wofür ich gleichwohl dem himmlischen Vater demüthig zu danken habe, und dessen ich auch nicht einmal werth bin, bestand darin, daß mir Gott die ganze Krankheit hindurch ein zufriedenes Herz gegeben hatte, daß ich, in gewisser Zuversicht der Liebe meines Gottes und Heilandes und in fröhlicher Hoffnung des verheißenen Heils, mich vor dem Tode nicht entsetzte. Ja, hätte mich der Herr auch hier abgerufen, so hätte ich in jetziger, trauriger Zeit meinen Tod für eine Gnade gehalten, weil ich durch denselben vor machen weiteren Schmerzen wäre verschont worden. Daher habe ich auch während meiner langen Krankheit niemals recht innig und dringlich um meine Wiedergenesung zu bitten vermocht.“ Erst nach acht Monaten, im Sommer 1685, konnte er zum ersten Mal die Kanzel wieder betreten.

Kurze Zeit darauf erhielt er vom Churfürsten von Sachsen, Georg III., einen Ruf als Oberhofprediger, churfürstlicher Beichtvater, Kirchenrath und Consistorial-Assessor. Erst nach äußerst gewissenhafter Prüfung, und nachdem eine Commission von fünf frommen Theologen die Berufung für eine göttliche erklärt hatte, zog Spener im Juni 1686 nach Dresden. Er ging nicht ohne schwere Sorgen. Als er vormals in Frankfurt, seufzend über die Knechtschaft der Kirche unter Satans Herrschaft, des Nachmittags in die Betstunde ging, und den Herrn fragte, „Wirst Du dich nicht bald erbarmen, wie sich ein Vater erbarmt über Kinder?“ da klang ihm der Gemeindegesang entgegen, und zwar der 4. Vers aus Luthers Lied: „Auch Gott, vom Himmel sieh darein!“ und richtete ihn auf. Mit bangem Gefühle betrat er nun Sachsen. Da erscholl ihm beim Eingange in dies Land von einem Schülerchor derselbe Vers entgegen:

„Darum spricht Gott: Ich muß auf seyn;
Die Armen sind verstöret!
Ihr Seufzen dringt zu mir herein;
Ich hab‘ ihr Klag gehöret.
Mein heilsam Wort soll auf dem Plan
Getrost und frisch sie greifen an,
Und seyn die Kraft der Armen!“

Diese Worte drangen wie eine Stimme Gottes in seine betrübte Seele, und gaben ihm Trost und Frieden. Seitdem ließ er sich wöchentlich zu Dresden dieses Lied von einem Schülerchor vor seinem Fenster singen.

Speners Aufgabe am sächsischen Hofe war keine leite. Die Hofleute haßten ihn im Voraus, weil er als strenger Sittenrichter bekannt war. Seine geistlichen Amtsbrüder empfingen ihn mit Mißtrauen und Neid. Einige erklärten sogar öffentlich von der Kanzel herab, daß sie mit ihm keine Freundschaft halten könnten. Rührend sagte Spener darüber: „Ich muß es dem Herrn befehlen, bis der die Gemüther auch mir zulenken, und mir eine solche herzliche Freude bereiten wird. Könnten die lieben Männer in meine Seele sehen, sie ich gegen sie gesinnt bin, so würde man vielen Verdacht fallen lassen, und sich näher zu mir halten!“ Indessen predigte er im Namen des Herrn ohne Menschenscheu das Wort des Lebens. Und Gott gab seinen Segen dazu. Nicht nur in Dresden, sondern in ganz Sachsen wurde eine starke Bewegung sichtbar. Einen ganz besonderen Segen legte Gott auf die Katechismus-Examina, die Spener, da er die frommen Zusammenkünfte in Dresden nicht einführen zu können glaubte, für die Erwachsenen einrichtete. Anfangs nahmen nur wenige Leute an demselben Theil, die er zu sich in sein Haus einlud. Weil es für Erwachsene immer eine gewisse Verlegenheit ist, sich einem solchen Examen zu unterwerfen, so ging der rastlose Mann zu den Einzelnen hin, und frage sie in ihrem Hause, bis sie den nöthigen Muth hatten, auch in Gegenwart Anderer zu antworten. So wuchs die Theilnahme in diesem Werke von Tag zu Tag. In andern Städten un auf dem Lande wurde das schöne Beispiel nachgeahmt; na am Ende 1678 wurde durch den allgemeinen Landtag die Einführung der Examina beantragt. Der Churfürst genehmigte den Antrag; fürstliche Ungnade und unausbleibliche Strafe sollte die Ungehorsamen treffen.

Die Freude Speners über diesen Fortschritt sollte jedoch bald getrübt werden. Er untersuchte im Sommer 1687 den Stand der Universität Leipzig, und hielt bei dieser Gelegenheit eine Predigt. Er sagte darin, das Studium der h. Schrift müsse allen andern Studien vorgezogen werden, und die Studenten müßten es einsehen, daß ohne thätige und rechtschaffene Gottseligkeit das Studium der Theologie nicht mit Segen betrieben werden könnte. Die einfache Predigt brachte über alle Maßen reichliche Frucht. Einige junge Lehrer an der Hochschule, unter ihnen A. H. Francke, begannen, dadurch angeregt, die collegia philobiblica, d. i. Bibelliebende Vorlesungen, in denen sie die Bibel praktisch und erbaulich zu erklären strebten. Der Zudrang der Studenten zu denselben war außerordentlich; auch die Bürger schlossen sich ihnen an. Prediger und Professorenwaren ergrimmt. Alle jene fromme Leute wurden Pietisten gescholten. Man brachte es dahin, daß jene jungen Männer aus Leipzig verwiesen wurden. Spener aber nannte man höhnisch den Patriarchen der Pietisten. Berge von Acten wurden in dieser Sache geschrieben. Der Churfürst ließ sie Spenern zusenden. Er sollte die Klagen untersuchen, und sein Urtheil abgeben. Die Hauptpunkte der Anklage waren: 1) daß der Pietismus eine Sekte, also eine Ketzerei sei; 2) daß durch die biblischen Vorlesungen Franckes und seiner Freunde, so wie 3) durch die Hausversammlungen der Bürgersleute Unordnungen in der Kirche, wie in dem Gemeindewesen entstanden wären.

Spener widerlegte auf entschiedenste den Vorwurf der Ketzerei, deckte alle Verläumdungen gegen ihn selbst und gegen seine Freunde auf, und gab den Pietisten das Zeugniß, daß sie lebendige Glieder am Leibe Christi seyen. Er erklärte aber auch, daß diejenigen Zusammenkünfte, welche von keinem Geistlichen geleitet würden, verboten bleiben sollten.

Aber seine Rechtfertigung half nicht. Die Widersacher fuhren fort, unermüdlich mit Haß, Lug und Verläumdung Spenern und sein Streben zu überschütten, und um so dreister, als auch der Churfürst anfing, ihm abhold zu werden. Spener hatte nämlich, überwältigt von seinem Gewissen, am 1. Bußtage des Jahres 1689 einen Brief an den Kurfürsten, als an sein Beichtkind, gesandt. Er stellte ihm den Zustand seiner Seele vor Augen, und hielt ihm in beweglicher Sprache die am Hofe herrschenden Sünden vor. Der Kurfürst wurde aber von den Weltkindern an seinem Hofe aufgestachelt, und schwur in seinem Zorn, er wolle seinen Beichtvater nie mehr hören. Spener war tief betrübt, aber stille in Gott; denn er hatte zu Gottes, nicht zu seiner Ehre, jenen Brief geschrieben. Er ließ ich aber diesen Vorfall zur eigenen Demüthigung dienen. „Ich sehe nun wohl, schreibt er an einen Freund, daß Gott vorhatte, mich durch diese scheinbare Erhöhung innerlich, und auch wohl äußerlich desto mehr zu demüthigen. Nun der Herr ist heilig und gütig in Allem, was er thut. Der sei auch in Allem, mag es mit unserm eignen Rathe übereinstimmen, oder nicht, gepriesen in Zeit und Ewigkeit!“

In dieser Trübsal erhielt er vom Kurfürsten Friedrich I. von Brandenburg, nachmals Friedrich I. König in Preußen, im Jahre 1691 einen Ruf als Propst an die Nikolaikirche in Berlin.  Johann Georg war herzlich froh, den lästigen Bußprediger los zu werden. Am 3. Juni verließ dieser Dresden, und hielt am 21. zu Berlin seine Antrittspredigt. Seine Wirksamkeit hier war in jeder Hinsicht eine segensreiche. Seine Predigten waren stets ungemein zahlreich besucht, seine Katechismus-Examina hatten einen herrlichen Fortgang. Seine Aufsicht über die Stadtschulen und Landkirchen war von großem Segen begleitet. Die Besetzung vieler geistlichen Stellen war ihm ausschließlich anvertraut, und er sandte den Heerden treue Hirten. Aber wichtiger als alles dies war der Einfluß, den er ausübte, als an die vom Kurfürsten gestiftete Universität Halle Lehrer der Gottesgelahrheit berufen werden sollten. Durch ihn kam A. H. Francke dahin. Da wurde zu Halle ein neues Geschlecht von Hirten und Seelsorgern herangebildet, und dadurch die Gestalt der Kirche erneuert.

Am 3. Sonntage nach Trinitatis 1704 hielt Spener seine letzte Predigt von Christo, wie er den bußfertigen Sünder in Gnaden annehme. Bevor wir sein Ende erzählen, wollen wir noch einen Blick in das Stillleben seines Hauses thun.

Er stand jeden Morgen um halb sechs Uhr auf. Nachdem er in seiner Kammer schon vor Gott sein Herz ausgeschüttet, trat er in seinen Familienkreis, um mit ihnen zu beten und zu singen. Den Gesang liebte er so sehr, daß man ihn oft allein in seiner Stube ein geistliches Lied anstimmen hörte. Der ganze Morgen war der Arbeit gewidmet, und darin ließ er sich nur in Nothfällen unterbrechen. Viele Zeit nahm im die Beantwortung seiner Briefe fort, deren Zahl sich jährlich auf tausend belief. Um zwölf Uhr aß er zu Mittag. Seine Gespräche während des Essens waren mehr ernst, als heiter. Nach der Mahlzeit sang er das Lied: „Alle Menschen müssen sterben;“ darnach das fröhliche: „Verzage nicht, o Häuflein klein!“ Des Nachmittags fand Jedermann Zutritt bei ihm. Dann kamen meist Fremde, die oft weit hergereist waren, um ihn kennen zu lernen. Darüber ging der Tag zu Ende. Nach dem Abendessen sang er mit den Seinen: „Wachet auf, ruft ins die Stimme,“ und auf seinem Kämmerlein that sich noch einmal sein Herz auf zu dem Gesange:

„Mit Fried‘ und Freud‘ fahr ich dahin,
Ist’s Gottes Wille.
Getropft ist mir mein Herz und Sinn,
Sanft und stille.

So stark war sein Eifer für’s Arbeiten, daß er sich keinen Ausgang zur Erfrischung in freier Luft erlaubte. Man erzählt, in all den Jahren seines Berliner Amts sei er nur zweimal in dem Garten hinter seinem Pfarrhause gewesen. Die nöthigen Leibesbewegungen suchte er sich durch Auf- und Abgehn auf seinem Zimmer zu verschaffen. Wenn er in der Stadt etwas zu thun hatte, ging er zu Fuß, und war auch bei Sturm, Regen und Schnee nicht zu überreden, sich in einen Wagen zu setzen. Er schämte sich dessen. – Nur für das Gebet hatte er immer Zeit. Der Fürbitte für Andere widmete er besondere Stunden. Dabei war er so ängstlich und innig, daß er im Beten sein Angesicht nach der Gegend wandte, wo die wohnten, für die er betete. Weil er nun leicht Jemand vergessen konnte, so trieb ihn seine Gewissenhaftigkeit, die, welche er in sein Gebet aufzunehmen pflegte, nach den Ländern und Provinzen ihres Wohnorts, in mehrere Klassen einzutheilen. Und diese unterschied er dann wieder, je nachdem ihnen, wie er meinte, mehr oder weniger Fürbitte noth that. So betete er für Einige die Woche Einmal, für Andere mehrere Mal, für Einzelne täglich, für seine liebsten Freunde dreimal täglich. – Oft wurde ihm auch während der Arbeit sein Herz so voll, daß er aufstand, um vor seinen Gott hinzutreten. – Mit seiner Gattin Susanna lebte er in glücklicher Ehe, und ging an ihr mit dankbarer, inniger Liebe. Als einst Jemand ihm zu verstehen gab, daß ich das Gerücht verbreitet habe, er, Spener, bereue seine Verheirathung, fuhr er auf, und sprach: „es ist weder in mein Herz, noch meines Besinnens, in meinen Mund gekommen, zu sagen, daß es mich gereue, in den Ehestand getreten zu seyn. Auch könnte ich solches nicht sagen ohne Undankbarkeit gegen Gott, der mich darein berufen, und in demselben mir seine Gnade vielfältig bewiesen hat. Ja, Gott hat in meinem Ehestande mir mehr Gutes erzeigt, als in meinem ledigen Stande. Daher danke ich herzlich für solchen Beruf.“

Anfangs Juni wurde er krank; er meinte, sein Ende sei da. Er ließ alle seine Collegen an der Nikolaikirche zu sich kommen. Er sagte ihnen, daß er Gott danke, in der evangelischen Kirche erzogen zu seyn; er habe sich bestrebt, getreulich nach der h. Schrift und den symbolischen Büchern zu lehren, und setzte hinzu: „So ich sollte Jemand unter euch beleidigt haben, so bitte ich denselben um herzliche Verzeihung. In meiner Seele habe ich mich niemals auf meine eigne Gerechtigkeit verlassen. Zwar hat man mir die Ehre angethan, mich, weil ich von Jugend auf einen stillen, zurückgezognen Lebenswandel führte, Andern zum Exempel vorzustellen; aber dies ist nichts, nichts, nichts, als nur die Barmherzigkeit Gottes in Christo Jesu, darauf ich mich verlassen. Von allem Guten, das etwa durch mich geschehn ist, reche ich mir selbst nichts zu; mir gebühret nichts davon, als was daran fehlet.“

Im Januar 1705 wollte Spener einem Freunde den Tod eines andern Freundes melden. Als er im Schreiben an das Wort Tod kam, ergriff ihn plötzlich eine große Schwachheit, sodaß er ins Bett wanken mußte. Am 13. Januar beschloß er sein siebenzigstes Lebensjahr. Als die Wanduhr die fünfte Abendstunde schlug, in der er geboren war, traten Thränen der tiefsten Rührung in seine Augen, und laut betend lobte und dankte er Gott für alle Gnade, die er ihm erwiesen hatte. Dann legte er ein Bekenntnis seine vielen Sünden ab, und bat in Demuth als der geringste Knecht um Verzeihung. So weich war sein Herz, daß er mit den rührendsten Worten klagte, er habe dem Werke Gottes so wenig, ja gar nichts genützt, und die größte Zeit seines Lebens nicht zu des Herrn Ehre und Verherrlichung verwendet. Seine Frau fragte ihn, ob er auch denen, von welchen er in Schrift und Wort so schwer gekränkt sei, von Herzen vergeben hätte: „Ach ja, antwortete er, und ich wünsche, daß Gott sie bekehren möge.“

Am 4. Februar nahm seine Schwäche sichtlich zu. Er ließ sich das hohepriesterliche Gebet Jesu (Joh. 17.) dreimal vorlesen. Es war ihm das herrlichste Kapitel im neuen Testament. Doch hatte er nie darüber gepredigt. „Er verstände es nicht, sagte er, und das rechte Verständnis desselben übersteige auch das Maß des Glaubens, welches der Herr den Seinen auf ihrer Wallfahrt mitzutheilen pflege.“ Gegen Abend fiel er in einen sanften Schlaf, der bis an den Sonntag-Morgen dauerte. Da genoß er einige Nahrung, und ließ sich von dem Bett auf einen Stuhl setzen. Als man ihn wieder ins Bett legen wollte, schlossen sich seine Augen; Hände und Füße streckte er grade von sich. So starb er unter den Händen der Seinen, ohne den geringsten Schmerzenslaut. Es war Sonntags früh, am 5. Februar 1705.

Am 12. Februar wurde er auf dem Nikolaikirchhofe beerdigt. Der Propst, Dr. Lichtscheid, hielt die Grabrede über die Worte: „Mein Knecht Moses ist gestorben.“ Drei Tage darauf hielt ihm sein Adjunct Blankenberg die Gedächtnispredigt über Röm. 8, 10: „So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar todt um der Sünde willen; der Geist aber ist das Leben um der Gerechtigkeit willen.“ Den Text hatte er selbst gewählt. Alle Ehrenbezeugungen sollten nach seinem Willen unterbleiben. Auch wollte er nicht schwarz gekleidet um Sarge liegen, noch auch, – wie es Sitte war, – den Sarg schwarz angestrichen haben. „Ich habe, sagte er, Zeit meines Lebens über den Zustand der Kirche genug getrauert; da ich nun in die triumphirende Kirche eingehe, so will ich durch ein weißes Sterbekleid, und durch einen hellen Sarg bezeugen,, daß ich in der Hoffnung einer Besserung der Kirche auf Erden sterbe.“

Dr. Theodor Fliedner,
Buch der Märtyrer,
Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth,
1859