Petrus Waldes

Petrus Waldes

Es war um das Jahr 1170 nach Christi Geburt; da saß eine Gesellschaft ehrbarer Bürger von Lyon in der Sommerzeit zusammen und man erging sich in harmlosen Gesprächen, im Gefühle der Ruhe und des sichern Lebensgenusses. Plötzlich aber fiel Einer von ihnen todt zur Erde nieder und, als Alle darüber betroffen waren, hub ein angesehener wohlhabender Kaufmann aus ihrer Mitte sogleich an, von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit des irdischen Lebens zu reden und die Notwendigkeit der Bekehrung und eines gottgeweihten Wandels den Anwesenden an das Herz zu legen. Dieser Kaufmann hieß Petrus Waldus oder der Waldenser, weil er aus dem Waadtland herstammte. Er selbst war tief erschüttert und, wenn er vorher schon seiner Seele Heil gesucht hatte, so lag es ihm nun noch viel mehr am Herzen, den Willen Gottes unfehlbar kennen zu lernen, um ihm vollkommen zu dienen und auch Andre aus dem Sündenschlafe zu wecken. Da die Kirche seiner Zeit mit ihren Bußordnungen und Gnadenmitteln die Seelen meistens, wie er sah, nur fälschlich beruhigte und einschläferte, so wollte er das reine Wort Gottes aus der Quelle schöpfen. Man hatte aber damals die Bibel nur in lateinischer Uebersetzung und er verstand wenig Latein. So wandte er die Kosten daran und ließ sich von einem Priester, der die Sprache verstand, mehrere Bücher der Schrift mündlich in die provencalische Volkssprache übersetzen und ein junger geschickter Schreiber mußte die Uebersetzung nachschreiben. Er verachtete aber auch die ächten Kirchenlehrer nicht und legte sich nach gewissen Kapiteln eine Sammlung der trefflichsten Aussprüche über christliche Lehre und christliches Leben an und prägte sich das Bibelwort und die Lehrsprüche durch häufiges Lesen so ein, daß er fast Alles auswendig wußte. Dabei war es sein ganzer Ernst, die evangelische Vollkommenheit so zu beobachten, wie es die Apostel gethan. Das war freilich nicht ganz der richtige Weg: denn die christliche Vollkommenheit wird nicht dadurch erlangt, daß man damit anfängt, alle einzelnen Gebote halten zu wollen, sondern damit, daß der Grund des Herzens durch den Glauben erneuert wird. Indessen er betrat den Weg, den seit dem heiligen Antonius im dritten Jahrhundert fast alle Fromme, die nach dem Reiche Gottes trachteten, gewandelt waren und, wo, wie bei ihm, wirklich lebendiger Glaube und die rechte Erkenntniß der Sünde und der Gnade im Herzen war, da schadete das übereilte Streben nach der äußern Vollkommenheit des Wandels weniger. Sein Grundspruch war das Wort des Herrn zum reichen Jüngling: „Willst du vollkommen sein, so verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, und folge mir nach.“ (Matth. 19, 21.) Und er verkaufte seine Habe, warf sein Geld auf die Straße und ließ die Armen es auflesen. Darauf begann er, wie es die Apostel gethan, in Häusern und auf Märkten das Evangelium zu predigen und viele Männer und Frauen wurden von ihm erweckt. Diese Erweckten versammelte er in seinem Hause und prägte ihnen die Lehren des Evangeliums ein. Als sie bibelfest geworden, sandte er sie, wie weiland die siebzig Jünger, je Zwei und Zwei aus, um da und dort in der Umgegend, in den Häusern und im Freien, wohl auch in Kirchen, das Wort Gottes zu verkündigen. Er hielt darauf, daß sie auch im Aeußern arm und schlicht, wie die Jünger des Herrn, einhergingen, ja daß sie auch (nach Luc. 10, 4.) keine Schuhe, sondern nur Sandalen tragen sollten: das Volk nannte sie die Armen von Lyon, die Sandalenleute oder auch Waldenser.

Die kirchlichen Behörden verboten das Predigen der Laien ohne bischöfliche Genehmigung und hatten darin der Form nach recht: aber freilich predigten jene gerade darum, weil sie die Lehre der Kirche und die Art, wie von ihr die Seelen geführt wurden, für unzureichend, irrig und gefährlich hielten, und konnten darum die Genehmigung des Bischofs weder suchen noch erwarten. Sie stellten das Wort Gottes der ausgearteten Kirchenlehre entgegen und glaubten dazu verpflichtet und von Gott verordnet zu sein. Sie erklärten, wie einst die Apostel (Apgsch. 4, 19.), sie müßten Gott mehr gehorchen als den Menschen. Gegen die Verbote und Strafgerichte des Erzbischofs Johannes von Lyon suchten sie Schutz bei dem Pabst, wurden aber schon im Jahre 1184 durch den Pabst Lucius III. in den Bann gethan, nachdem sie bereits früher auf einer Kirchenversammlung in Rom (1179) lächerlich gemacht und verurtheilt worden waren. Darum ist Petrus Waldus und die Bewegung, die er hervorgerufen hat, so wichtig, weil durch ihn zuerst der traurige Zwiespalt öffentlich wurde, in welchen fromme Christen gerathen mußten, wenn sie zwischen dem klaren Worte Gottes in der Schrift und dem Gehorsam gegen eine kirchliche Obrigkeit, die dieß Wort mißdeutete und mißbrauchte, zu wählen hatten. Es ist viel leichter ein Zeuge der Wahrheit gegen Juden und Heiden zu sein, als dieß schwere Amt gegen eine Kirche selbst zu üben, die auf das alleinige Recht Anspruch macht, über kirchliche Ordnung und Lehre und über das Wort Gottes und seine Auslegung zu richten. Das Gewissen gebietet ja, der Kirche und ihren Dienern zu gehorchen: es gebietet aber noch weit stärker, Christo, dem Herrn der Kirche, und seinem Worte unbedingt zu folgen. Hier streitet Pflicht mit Pflicht, Gehorsam mit Gehorsam, und die Waldenser zweifelten keinen Augenblick, daß sie dem Herrn des Pabstes mehr gehorchen müßten als dem Pabste, der sich den Knecht Christi nennt. Freilich geriethen sie auch in Gefahr, die Worte der heiligen Schrift irrig zu deuten, indem sie gerade den sichersten Weg zu gehn meinten, wenn sie ganz bei dem Buchstaben blieben. Sie hielten sich durch Jesu Befehl an die Apostel für verpflichtet, grade wie diese öffentlich zu predigen: aber wer gab ihnen die Vollmacht, sich für Apostel zu halten! Sie verboten, wenigstens in den ersten Zeiten ihres Auftretens, alles Schwören, alles Tödten, ohne die Verbote des Herrn in ihrem Zusammenhange und nach ihrem Zwecke aufzufassen. Aber der Schwerpunkt ihrer Lehre und ihres Zeugnisses lag nicht in diesen Einzelheiten, sondern darin, daß sie behaupteten, die Kirche bestehe nicht bloß in dem Clerus, sondern in der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen, das Wort Gottes dürfe nicht durch die ausgeartete Clerisei gebunden werden: wahre Buße, Glaube und neuer Gehorsam könne allein Gnade bei Gott erwerben, und alles Beichten, aller Ablaß, alles Anrufen der Heiligen, alle Messen und Almosen seien nichtig, wenn sie die Verpflichtung zur christlichen Vollkommenheit ersetzen und in den Augen der Laien herabsetzen sollten. Das war der Sinn und das Ziel ihrer Lehre, und das wollte der Clerus nicht leiden, sondern faßte sie bei einzelnen Ausdrücken und Behauptungen, und schob die Hauptsache absichtlich zurück, um sie in den Schatten zu stellen. Bald fing man an, sie nicht nur gefangen zu setzen, sondern auch mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen zu bestrafen. Aber ihre einfältige Lehre und ihr reiner Lebenswandel zog das Volk an, unter das sie als Handwerker und arme Leute sich mischten, aber ohne daß man je eine Lüge von ihnen hörte, ohne daß sie die Trinkhäuser besuchten oder etwas Unzüchtiges sich zu Schulden kommen ließen. Die Verfolgung nöthigte sie sich zu zerstreuen und bald finden wir sie in Spanien und Oberitalien, im Elsaß und in den Niederlanden: überall erwecken sie den Eifer in der Schrift zu lesen, fromm und sittig zu wandeln und die kirchlichen Mißbräuche zu bekämpfen: ihre Feinde selbst müssen ihre Schriftkenntniß und ihren reinen Wandel loben. Petrus Waldus zog flüchtig, aber predigend, von Land zu Land: er soll endlich in Böhmen eine Ruhestätte gefunden haben und im J. 1197 daselbst gestorben sein.

Es war schon nach seinem Tode, als Pabst Innocenz III. auf den Gedanken geführt wurde, die Waldenser mit der Kirche wieder auszusöhnen und in den Gang der römischen Mönchsorden zu leiten: er wurde in diesem Plane von einem in die Kirche zurückgetretenen Waldenser, Durandus von Osca, bestärkt. Er wollte ihnen gestatten sich vom Kriegsdienst und von Eidschwüren zu enthalten, in so fern dieß ohne Andrer Nachtheil und Aergerniß und unter Zustimmung der Landesfürsten geschehen könnte: die Tüchtigsten und Geschicktesten unter ihnen sollten fernerhin lehren und predigen dürfen, jedoch mit vorgängiger Erlaubniß der kirchlichen Oberen; die Uebrigen sollten für der Lehrer Unterhalt arbeiten und Niemand sollte sie hindern, arm zu bleiben: auch sollten sie eine Tracht behalten, die der ihrigen ähnlich wäre. Dagegen sollten sie versprechen, sich dem römischen Stuhle völlig zu unterwerfen, und die Gemeinschaft mit den von der Kirche getrennten Waldensern, so wie mit andern ketzerischen Secten, aufgeben. Aber es war zu spät: weder die Bischöfe noch die Waldenser wollten darauf eingehen, weil der Riß schon zu groß geworden und die armen Verfolgten schon zu tief in das Verderben der herrschenden Kirche hinein geblickt hatten. Ueberall hin zerstreut, überall verfolgt, verbreiteten sie im Stillen die biblische Lehre und säeten den Glauben an das allgemeine Priesterthum aller Gläubigen unter dem Volke aus, das freilich die Ordnung des geistlichen Amtes nicht ausheben soll.

Die Waldenser werden mit Recht als standhafte Zeugen der Wahrheit gegen das Verderbniß in der römischen Kirche und als Vorläufer der Reformation geehrt, und mit bewundernswürdiger Standhaftigkeit haben sie Jahrhunderte lang die grausamsten Verfolgungen erduldet, so wie ihre Ueberreste noch in der neuesten Zeit unter fortgesetztem Druck sich erhalten haben. Wie verbreitet sie im Mittelalter in den niedern Ständen waren, beweist ein Bruchstück aus einem Inquisitions-Verzeichniß vom Jahre 1391, wo folgende Namen als Waldenser angemerkt sind: „Nikolaus und sein Sohn Johannes, aus Polen, Beide Landleute: Conrad aus der Stadt Düben bei Weißemburg (Wittenberg?), Sohn eines Landmanns: Walich von Guidex (?), ein Schuhmacher: Conrad von Gemünd in Schwaben, Sohn eines Landmanns: Simon von Salig, aus Ungarn, ein Schneider: Hermann von Mistelgen, aus Baiern, ein Schmidt: Johann von Diruna, aus Baiern, ein Schmidt: die Vorbenannten werden unter ihnen Apostel, Meister (Magistri), Engel (Boten Christi) und Brüder genannt.“ Die letzte Bemerkung führt auf ihre Verfassung und ihren Lehrstand, wovon man sonst aus früherer Zeit wenig weiß: auch haben die beständigen Verfolgungen eine ordentliche kirchliche Einrichtung wohl verhindert und einen streng abgesonderten Lehrstand konnten sie nach ihren Grundsätzen nicht haben. Apostel mochten diejenigen heißen, welche zum Zeugniß des Wortes Gottes in die Fremde gingen, Meister oder Magister die, welche in ihren Bethäusern lehrten, Engel (nach Offenb. Joh. 2, 1.) die Vorsteher und Vertreter ihrer Gemeinlein. In den Gebirgen und Thälern von Savoyen, wo ihrer Viele seit dem 14. Jahrhundert eine Zuflucht suchten, wurden ihre Vorsteher Barben (Larbae, Bartmänner) genannt, mit welchem Namen man gemeinhin einen Oheim und häufig in jenen Gegenden ehrenthalben einen Priester bezeichnete. Dieser Name soll bis in’s Jahr 1630 den Vorstehern der Waldenser in den piemontesischen Thälern, wo sie sich allein noch erhalten haben, beigelegt worden sein. Damals aber sind in Folge einer Pest Alle bis auf Zwei ausgestorben und die Waldenser wandten sich nun nach Genf und Frankreich, um von den Reformirten sich Lehrer zu erbitten. Diese wurden Messer (Herr) tituliert und predigten nicht mehr in der alten Sprache ihrer Väter, sondern französisch. Eine alte Kirchenordnung der Waldenser hat ihr ehemaliger Prediger Johann Leger um die Mitte des 17. Jahrhunderts in seiner Geschichte der Waldenser abdrucken lassen: ihre strenge Zucht ist von den Reformatoren belobt worden. Die Waldenser sind die Einzigen, die von den vielen Secten des Mittelalters sich noch bis auf den heutigen Tag, freilich in geringen Ueberresten, erhalten haben: das ist wie ein Gnadenzeichen von Gott, weil sie mit Treue und Einfalt sich rein dem Worte Gottes unterwerfen wollten, während alle andern ketzerischen Partheien dieß nicht thaten oder doch noch etwas Anderes nebenbei suchten und darum mit Recht ihr Urtheil trugen. Nach Piemont zogen sich zeitig Waldenser hin, weil sie dort am Ersten Duldung erwarten konnten, da viele Gleichgesinnte, die mit der Hierarchie unzufrieden waren und in evangelischer Reinheit Gott dienen wollten, daselbst sich aufhielten und in den stillen Thälern sie Niemandem in den Weg traten. Sie blieben auch bis zum Jahre 1640 ziemlich unangefochten: aber von da an begannen Anfeindungen und Verfolgungen, vor denen schon beim Lesen die Haut schauert. Da werden Waldenser von Felsen herabgestürzt, Andre gesteinigt, Andre an die Hinterbeine von Pferden oder Eseln gebunden und zu Tode geschleift; Einigen wird der Leib aufgeschlitzt und die Höhlung mit Steinen oder Pulver gefüllt: kein Alter, kein Geschlecht wird verschont. Die Verwendungen von Seiten des Kurfürsten von Brandenburg und der englischen Regierung gaben wenig Linderung: die Auswanderung war schwierig und gefährlich, und die armen Thalleute hingen zu sehr an ihren Bergen und Schluchten, als daß sie leicht anderswo sich eingewöhnen konnten. So ist denn ein Ueberrest von etwa 20,000 Seelen in den Thälern von Luserne, Pelice, Angrogne, St. Martin und Perouse ohnweit der Stadt Pinerolo in Piemont übrig und bildet seit 1655 eine Abzweigung der französisch-reformirten Kirche. Ihre Prediger studieren gewöhnlich in Genf: der König von Preußen, Friedrich Wilhelm III, hat auch in Berlin zwei Freistellen auf einem Gymnasium und zwei Stipendien auf der Universität für Theologie studierende Waldenser gegründet. In La Tour, dem Hauptort der Waldenser im Thale Luserne, haben sie eine lateinische Schule, die für die höheren Classen der Gymnasien vorbereitet und durch milde Beiträge ist dafür im Jahre 1836 ein stattliches Gebäude errichtet worden. Ein englischer Oberster Ch. Beckwith hat einen großen Theil seines Lebens und Vermögens den Waldensern gewidmet und auch eine Anstalt zur Erziehung von Mädchen für sie gegründet. Von Zeit zu Zeit sind sie neuerlich von Reisenden besucht worden. Unter Napoleon waren sie von allem Drucke frei; aber seit der Wiederherstellung der Sardinischen Regierung haben sie nicht wenig vom Druck der Regierung und von der Zudringlichkeit der römischen Kirche leiden müssen. Durch ein Patent des Königs von Sardinien, das unter dem 17. Februar 1848 ergangen, sind jedoch endlich alle früher gegen sie gegebenen Gesetze aufgehoben und es ist ihnen nun nicht nur vollkommen freie Religionsübung, sondern auch Gleichheit aller bürgerlichen und politischen Rechte mit allen übrigen Unterthanen des Königs bewilligt worden. Dieser Ueberrest einer fast sechshundertjährigen, von vielen Stürmen umbrausten Glaubenseiche – ob er wohl noch einmal frisch und kräftig aus der Wurzel sprossen wird? (Geschrieben 1850.)

  1. E. Schmieder in Wittenberg.

Evangelisches Jahrbuch für 1856
Herausgegeben von Ferdinand Piper
Siebenter Jahrgang
Berlin,
Verlag von Wiegandt und Grieben
1862