Gustav Adolf Textor

Gustav Adolph Textor wurde am 4. August 1805 zu Langenberg bei Stettin geboren, wo sein Vater Pastor war. Schon im Jahre 1810 starb dieser, und hinterließ eine Wittwe mit sechs unmündigen Kindern in bedrängten Verhältnissen. Bis zum vierzehnten Jahre genoß der Knabe, welcher seine Zeit meistens in Feld und Wald, oder an der selbstverfertigten Drechselbank verbrachte, einen spärlichen und dürftigen Unterricht, der sich auf die ersten Anfänge der lateinischen und französischen Sprache, Rechnen, Lesen und Schreiben beschränkte. Im Sommer 1819 ward er zu einem Verwandten, einem Rektor an der Schule einer kleinen Stadt, gegeben, unter dessen Leitung er bis Weihnachten 1820 fleißig lernte, still hoffend, er werde einmal Theologie studiren können. Da es aber hierzu an Mitteln fehlte, so wurde er einstweilen für den Kaufmannsstand bestimmt, und es fand sich, nachdem er confirmirt und wieder fast ein Jahr auf Selbstbeschäftigung im mütterlichen Hause angewiesen war, ein Lehrherr, dem die vorangeschickte zierliche Handschrift sehr wohl gefiel, der aber den ungelenkigen, still-ernsten Knaben, als er ihn persönlich kennen lernte, für untauglich zum Geschäft erklärte. In dieser Verlegenheit, und ermuthigt durch einen scheinbar zufälligen Umstand, beschloß ein Onkel, der bisher väterlich für die Familie gesorgt und gearbeitet hatte, Alles aufzubieten, um den Neffen auf einer Hochschule zu erhalten, und so trat dieser im Herbste 1821 in die Quarta des Stettiner Gymnasiums ein, dessen höhere Klassen er schnell durchmachte. So gern der Vollendete noch oft bei der Erinnerung an jene Zeit verweilte, wo sich zuerst seinem Wissensdrange ein weites Feld eröffnete, und er sich seiner Kräfte bewußt wurde, so schmerzlich war ihm der Rückblick auf die für seine geistige Ausbildung verlorenen Kinderjahre.

Im Herbste 1825 ging Textor, ausgestattet mit 40 Thalern auf die Universität Greifswald, wo er, zwar nach Kräften von dem treuen Verwandten unterstützt, alle Stadien des Lebens eines armen Studenten durchzumachen hatte, welchem es neben den pecuniären Mitteln auch noch an Muth gebricht, sich fremden, gebildeten Familien anzuschließen. Schon damals waren die theologischen Studien seine ganze Freude; er gab sich ihnen mit gutem Erfolge hin, wie es von seiner mit geistigen Fähigkeiten reich ausgestatteten Natur nicht anders zu erwarten stand, obgleich er das Siegel der Kindschaft bei Gott durch den heiligen Geist damals noch nicht in seinem Herzen trug. Neujahr 1828 erhielt er ein Familienstipendium von 50 Thalern, und ging Michaelis desselben Jahres als Hauslehrer und zur Unterstützung des Pastor Franke im Predigen nach Bobbin auf Rügen, welches ihm, wie er in dankbarer Erinnerung an die dort verlebten Jahre sich selbst auszudrücken pflegte, „die Hochschule des Glaubens werden sollte.“ Dort erschloß sich ihm nämlich, besonders im Umgange mit einer geistreichen hochgeachteten Greisin, das Leben in Christo Jesu, und die Keime, die bis dahin in seltener Fülle in ihm geschlummert, kamen nun, als die Sonne des Evangeliums mit ihren belebenden Strahlen die Tiefen seines Herzens erwärmte, zum rechten Erwachen und zur Entfaltung. Bald zeigte es sich, wie seine hohe Gabe zur Predigt des göttlichen Worts das größte ihm anvertraute Pfund war, und wie er es so meisterhaft verstand, Christum zu verherrlichen und Ihn den Menschen an’s Herz zu legen. Dies Pfund wollte der Herr nicht im Schweißtuche vergraben liegen lassen, es sollte bald viel Frucht wirken zu Seines Namens Ehre. Fühlte sich Textor in seinem Innern gehindert, trotz seiner Sehnsucht nach einem Pfarramte sich um ein solches zu bewerben, da er des Glaubens war: der Herr, der ihn von Mutterleibe an erwählt und so wunderbar geführt habe, werde Zeit und Ort, wo Er ihn brauchen könne, auch ohne sein Zuthun ihm zeigen; so sollte er auch bald erfahren, daß seiner vor Gott in Gnaden gedacht sei. Ein hochgestellter Mann in der pommerschen Kirche, der sich überall nach gottseligen und tüchtigen Candidaten umsah, um sie am rechten Orte im Weinberge des Herrn an die Arbeit zu bringen, befand sich einst in der Kirche unter Textor’s Zuhörern; dieser war ihm ein guter Fund, und so ward derselbe denn schon um Weihnachten 1832 durch die Königliche Regierung zu Stettin als Pastor nach Sarnow bei Wollin berufen.

Es war damit dem Vollendeten eine große Thür aufgethan, ein Feld der Arbeit angewiesen, welches eine rüstige Kraft, eine hingebende Liebe erforderte. Mit großer Freudigkeit nahm er den Ruf an, und der Herr bekannte sich bald also zu seiner Wirksamkeit, daß noch heute der Segen gar wohl bemerkbar ist, obschon seitdem zersetzende Sturme über die Gemeinde hingegangen sind.

Der innere Zustand dieser Gemeinde bot damals, als Textor in sie eintrat, nach den Worten der von ihm hinterlassenen Chronik „ein sehr mannigfaltiges Bild dar, in welchem verschiedene Richtungen auf ihre Extreme hinarbeiten zu wollen schienen.“

Neben einzelnen aufs Grellste hervortretenden Schattenseiten fand er auch „eine Lichtseite, die im lebhaftesten Contraste gegen jene das Arbeitsfeld zu einem sehr anziehenden machte.“ Es hatte sich nämlich in der Gemeinde aus einer früheren Zeit, deren Spuren der Selige „fast verschwunden“ nennt, ein gewisser Grad von Kirchlichkeit erhalten; auch die Schulen waren „durch die unvergeßlichen Schöpfungen des seligen Schulraths Dr. Bernhard und durch den Ernst und die unermüdete Thätigkeit des Superintendenten Backe auf das Erfreulichste erblüht, somit also der Canal noch einigermaßen offen, durch welchen das Wasser des Lebens der Gemeinde zufließen konnte.“

Und Textor war so ganz der Mann in Anerkennung des Vorhandenen auf solchem Grunde rüstig fortzubauen. Hierzu fanden sich in der Gemeinde eine Anzahl erweckter Christen, „welche durch den neuen Odem, der damals die ganze Gegend durchzog, geweckt und in Schwingungen gesetzt waren. Empfänglich, aber unerfahren, hungrig nach dem Evangelium, waren sie weit und breit umher gegangen, um hie oder da eine Predigt aus dem rechten Brunnen von der Gnade Jesu Christi zu hören; mitunter zarte, schüchterne Seelen, die fröhlich in Gott sich noch äußerlich zur Gemeinde hielten, mitunter schartig und heftig, die von dem Prediger schon ausgegangen waren, und nun selbst umherzogen, um auch Anderen das Evangelium zu bringen, obgleich sie dazu weder die Gaben, noch den Beruf, noch die gereifte innere Treue hatten.“ Diese Seelen waren unserem Textor „eine höchst erfreuliche Erscheinung, die ihm das Arbeitsfeld von vorne herein zu einem besonders anziehenden machte.“ „Mit offenen Armen wurde ich, vornehmlich von diesen Erweckten aufgenommen,“ äußert er selbst darüber; „zu jedem guten Werke fand ich sie bereit. Es war mir von diesem besonderen Zustande der Gemeinde nichts bekannt, ehe ich in das Amt trat; überhaupt hatte ich von dergleichen Erscheinungen bis dahin auffallender Weise nichts gesehen, nichts gehört, nicht einmal etwas gelesen, aber des Herrn gnädige Hand hat mich wunderbar geleitet, .daß ich bei meiner gänzlichen Unerfahrenheit auf diesem Gebiete das Feld behalten habe.“ Mit großer Liebe ging er gerade diesen Seelen, nach, durch zarte Pflege fördernd, was er in ihnen als wahrhaft göttliches Leben vorfand, aber auch abschleifend, was er als menschliche Zuthat und Besonderheit erkannte. Es ist anzuerkennen, daß ihm gerade in dieser Hinsicht ein großes Maaß christlicher Weisheit verliehen war, und wie nur die Ruhe, welche Textor in Allem charakterisirte, ihn vor so nahe liegenden gefährlichen Mißgriffen bewahrte. War er doch Anfangs selbst der Meinung, „daß er nur deshalb nach Sarnow gekommen sei, damit durch seine Predigt die ganze Gemeinde so werden solle, als jene.“ Bald indessen wurde er inne, daß er für Alle da, und seine Aufgabe sei, „nicht eine besondere Form des christlichen Lebens, sondern das Leben aus und in Jesu Christo selbst“ zu erwecken und zu fördern. Darum achtete er denn auch der so schroff gewordenen Scheidung bald gar nicht mehr, und gab der ganzen Gemeinde mit ungetheilter Liebe sich hin, indem er sowohl selbst „denen Gerechtigkeit widerfahren ließ, welche er sonst als rechtliche und gottesfürchtige Leute erkannte, wenn sie auch in der Form ihrer Erkenntniß und ihres Bekenntnisses von der Art der Erweckten abwichen, als er auch die Letzteren zu dieser Anerkennung nöthigte.“ Es würde uns für den vorliegenden Zweck zu weit fuhren, so sehr auch das Herz dazu drängt, wenn wir die Wirksamkeit des Vollendeten mehr in’s Einzelne verfolgen wollten; es sei genug, wenn wir bemerken, daß der Herr ihm einen Sieg nach dem andern gab, und seine Arbeit über Bitten segnete. Die Gemeinde erkannte, welch einen Schatz sie in ihm besaß, und suchte seine Mühe um sie, durch herzliches Entgegenkommen zu vergelten. Die Kirchen waren stets überfüllt, daß die andächtigen Hörer oft draußen unter den Thören und an den Fenstern dem lebendigen Strom der lauteren Predigt lauschten, und bald ging durch das ganze Kirchspiel, wie ein stilles, sanftes Sausen vom Herrn, das neue Leben aus Gott, daß die Herzen der Väter bekehrt wurden zu den Kindern, und die Herzen der Kinder zu ihren Vätern. Ein eigener Bibelverein blühte empor, ein reger Missionseifer erwachte; Privaterbauungen, die der Pastor unter speziellster Aufsicht behielt, förderten auch an ihrem Theile das christliche Leben, und so konnte der Separatismus, der schon zu jener Zeit in der Umgegend Raum gewann, in Sarnow keinen Eingang finden. Die Gemeinde hatte in ihrem Pastor ja Alles, was sie nur wünschte, und das gegenseitige Vertrauen war zu innig, als daß es durch Eindringlinge erschüttert werden konnte, obschon diese es an Versuchen nicht fehlen ließen.

Textor war somit ganz an seiner Stelle, und dachte wohl nicht im Entferntesten daran, diesen Wirkungskreis je zu verlassen, als ihm Ostern 1837 der Ruf zum Archidiakonus an der Domkirche zu Cammin wurde. Es kostete viel Mühe, ehe er die Ueberzeugung gewinnen konnte, daß auch dieser Ruf ihm von dem Herrn komme; sein eigenes Herz, wie das seiner Gattin, mit welcher er sich im Jahre zuvor verheirathet, ja seine ganze Familie, die sich um ihn gesammelt hatte, war zu sehr mit Sarnow verwachsen, als daß sie sich von dieser „ersten Liebe“ scheiden mochten; das Andringen der klagenden Gemeinde, und eine Ahnung der Trübsale, welche später über dieselbe hereinbrachen, wollte Textor lange nicht lassen: doch beugte er sich dem Herrn, und trat um Johannis jenes Jahres in seine neue Wirksamkeit ein. Sein Herz hielt jedoch fest an der ihm so theuren Gemeinde; mit inniger Liebe gedachte er immerdar an diese „Frühlingszeit“ seiner Thätigkeit, und als im Jahre 1846 jene Trübsale über die Gemeinde hereinbrachen, deren wir öfter gedacht, als der Strom des altlutherischen Separatismus über sie daherfluthete, und ein Riß sondergleichen zu fürchten stand: da konnte er nicht an sich halten, er mußte hin, mußte von der Kanzel herab, in den Schulen und Häusern die ihm im Herzen so lieben Seelen noch einmal sprechen, das: „Eins ist noth!“ ihnen zurufen, und die somit frisch in’s Gedächtniß ihnen zurückgerufene „alte liebe Zeit“ ward ein starkes Bollwerk für viele schon schwankend gewordene Glieder der Gemeinde, daß sie bei der Kirche verblieben. Fast wäre er willig gewesen, noch einmal den Dienst der Gemeinde sich selbst übertragen zu lassen! Der Herr, der solche Treue nicht ohne Trost lassen konnte, erhörte sein Gebet, und schenkte ihm noch hienieden die Freude, daß er in seinem Sarnow wieder mit Frieden weilen konnte, als er am zweiten Pfingsttage 1848 daselbst noch einmal predigte. Sein Andenken ist noch unverwischt, und wird wohl erst mit dem letzten von ihm confirmirten Kinde aussterben.

Wie in Sarnow, also begann der Heimgegangene auch in Cammin seine Thätigkeit mit ganzer Liebe. Wollte auch Anfangs den durch seine theuren Amtsvorgänger – einen Dummert, einen Mila – schon so reich bedacht gewesenen lieben Camminern der äußerlich wenig scheinende und darbietende Textor nicht sonderlich zusagen: als sie nur erst die besondere Eigentümlichkeit seines Wesens, von der weiter unten die Rede sein wird, gewahr wurden, und sonntäglich hörten, wie der lautere Strom der evangelischen Predigt in großer Klarheit, Tiefe und Wärme von seinen Lippen floß, sprachen sie doch: es ist ein seltsamer, aber auch ein seltener Mann zu uns geschickt worden. Erhebend und erquickend waren die Nachmittags-Gottesdienste in dem alten Dom! Die weiten Räume mit Menschen angefüllt und fast jeden Sonntag dieselben Gesichter an denselben Stellen bei ergreifendem Orgelspiel unter dem hohen Gewölbe ein Gesang, dem man es anhörte, daß die Gemeinde singen gelernt hat und gern singt? dann Textors Predigt, einfach und erhaben, frisch und lebendig, kräftig und innig, immer das alte seligmachende Evangelium enthaltend, und immer eine neue Seite der himmlischen Lehre enthüllend. Wie verstand es der Selige doch so meisterhaft, dem Menschen zu zeigen, was er von Natur ist, und was er durch Christi Gnade werden kann; wie ging ihm sein Mund in Strömen über von der in der Sendung seines Sohnes uns bewiesenen Liebe Gottes, deren sein Herz voll war; wie dringend pries er den Reumüthigen an, was er an eigener Seele erfahren hatte, den unerschöpflichen Trost der Sündenvergebung; wie gelehrt war seine Zunge, das aus Gottes Wort ans Herz zu legen, was den Pilgern auf dem schmalen Wege zu ihrer Läuterung und Befestigung dient. Merkwürdig war in Textors Predigten der Wechsel der schlichtesten Darlegung der christlichen Wahrheiten mit dem höhen Fluge, den die Rede zuweilen nahm, besonders gegen das Ende des Vortrags, wenn sein Glaubensauge hineinblickte in die Freuden der zukünftigen Welt. Mächtig hoben sich dann die Schwingen des Geistes und zogen die Herzen der Versammlung nach. Niemals wurde seine Rede zum Sturm und wilden Feuer, sondern allezeit erwies er sich als ein Kind des Geizes, dessen Wehen innig wohlthut, und dessen Flamme mild erwärmt. Und dann zum Schlüsse des Gottesdienstes sein würdevoller, klangreicher Gesang des Dankgebets und des Segens, welcher vom Altare her durch die Räume der herrlichen Cathedrale tönte und ergreifend in die Herzen drang. Wahrlich es waren reich gesegnete Stunden, welche die Gemeinde fest an die Kirche fesselten. „Was auch die Separatisten uns vorreden mögen, wir kommen nächsten Sonntag doch wieder,“ das war, wenn auch ihnen unbewußt, die Stimmung beim Heimgange aus der Kirche. Cammin, vergiß nie jener gesegneten Zeit, in welcher dein Mila und Textor Eines Geistes, einmüthig und einhellig, das kindlich große gottselige Geheimniß lebendig und kräftig Dir predigten, und Dir vorangingen in den Fußstapfen Deß, Der von sich sagen konnte: „Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsternis), sondern wird das Licht des Lebens haben!“

Nachdem dem Vollendeten im zweiten Jahre seiner Wirksamkeit in Cammin zu seinem geistlichen Amte noch das Direktorat an dem unter seiner Mitwirkung neu errichteten Schullehrer-Seminar übertragen worden war, hatte er alle Hände voll zu thun; und als sich bald darauf ein körperliches Leiden einstellte, das fast sein beständiger Begleiter zu werden anfing, war es nur einem Manne von seinem Geiste und Gaben möglich, mit so gesegnetem Erfolge weiter zu wirken. Unter dem Kreuze der Kränklichkeit, welche seinen äußerlichen Menschen zuweilen sehr hart angriff, ward der innerliche von Tag zu Tage herrlich erneuert. „Ich habe meine Rechnung nur noch auf wenig Jahre gestellt,“ äußerte er schon damals, und man merkte es seinem ganzen Verhalten an, daß Gedanken an den nahen Tod ihn ernsthaft beschäftigten und seinen Umgang mit Gott immer inniger und beständiger machten. 

Wenn man der Gnade des Höchsten zum Preise von Textor sagen muß, daß er zu einer tiefen Erkenntniß des uns durch Christum bereiteten Heils gekommen war, daß er wußte, an wen er glaubte, daß er mit Treue dem Heilande nachfolgte und das Kreuz nachtrug, daß er als Prediger und Lehrer, als Gatte und Vater, als Freund und College, und in allen andern Verhältnissen des Lebens zum Wohlgefallen Gottes zu wandeln eifrig bestrebt war, so ist dies freilich das Beste und Schönste, was man einem Menschenkinde nachsagen kann; allein es sind Dinge, welche sich an jedem Jünger Christi in irgend einem Maaße finden müssen. Darum sei außer dem großen Worte, daß Textor ein Christ war, noch etwas von seiner besonderen Eigentümlichkeit gesagt. Gar merklich unterschied er sich von der Mehrheit anderer Leute durch eine sich stets gleichbleibende Ruhe und Gemessenheit, welche sich bis zum Auffallenden steigern konnte, und öfters durch Schweigsamkeit drückend wurde. War gleich diese Seite seines natürlichen Wesens durch den Geist von oben her geheiligt worden, und wurde sie dadurch ein Quell bedeutender Vorzüge, so gelang es ihm doch nicht, diese absonderliche Mitgabe in dem Grade abzustreifen, wie es zu wünschen gewesen wäre. Sein Schweigen, wenn man erwartete, daß er reden würde, seine Unbeweglichkeit, wenn man Entgegenkommen gehofft hatte, haben mehrfach zu falschen Urtheilen über ihn Anlaß gegeben. Die Freunde wußten mit ihm Bescheid, machten auch wohl diese ihm eigene Weise zum Gegenstande der Heiterkeit, was er stets mit stillem freundlichen Lächeln hinnahm; aber die Fernerstehenden stießen sich nicht selten, und suchten den Fehler da, wo er am allerwenigsten lag, in der Gesinnung und im Gemüthe. Einmal wurde er von seinem theuren Collegen mit brüderlichem Ernst auf die Sache angeredet und ihm vorgestellt, wie sehr dieser Mangel im persönlichen Verkehr hie und da schade; er sah auf mit einem Blick, welcher gestand, daß ihm Alles wohl bewußt sei, und sagte: „es hilft nicht, ich muß so verbraucht werden.“ Denen, welche gelernt hatten, mit ihm umzugehen und ihm den Mund zu öffnen, wird unvergeßlich bleiben, mit welcher mittheilenden Lebendigkeit und mit welcher liebenswürdigen Heiterkeit er die Seele des Kreises wurde, der ihm umgab. Ein ihm nahestehendes Gemeindeglied äußerte darüber einst treffend: „Unser Textor ist wie ein köstliches Instrument; still und stumm bei aller Schöne, bis die kundige Meisterhand darüber hinfährt: dann aber erquickt es durch liebliche Harmonie.“

Textor’s Bedächtigkeit und Ruhe trugen im Dienste Dessen, dem er sein Leben geweiht hatte, die trefflichsten Früchte. Zwar langsam, aber festen und gewissen Schrittes ging er seinen Weg. Er glich einem klaren und tiefen Bache, welcher still dahinfließt, und dessen Wasserspiegel immer gleich hoch steht. Sein Heller Blick wurde durch keine Erregtheit des Gemüths getrübt. Seine Besonnenheit verließ ihn niemals. „Meine Seele ist stille zu Gott,“ schien der Wahlspruch seines Lebens zu sein. Wenn Freude oder Schmerz sein Inneres bewegten, so waren die Aeußerungen dieser Gefühle immer gehalten. Diese stets gleiche und ebene Stimmung seines Geistes brachte ihm und dem Werke, das er trieb, großen Gewinn. Von Uebereilungen, zu denen sich manche für die Ausbreitung des Reiches Gottes eifrige Prediger zuweilen hinreißen lassen, war bei ihm nicht die Rede. Wenn er etwas unternahm, bauete er erst festen Grund, und so leicht kam ihm keine Schwierigkeit unerwartet. Durch Geduld und Ausdauer, durch Stillesein und Harren überwand er die Hindernisse. Die Sicherheit, welche sich in allen seinen Reden und Thun kund gab, flößte Wohl- und Uebelgesinnten Respect ein. In keinen Kampf ging er rasch hinein, darum ging er auch aus jedem siegreich hervor. Wenn er erregten Menschen gegenüber stand, etwa wenn er mit separirten Lutheranern zusammentraf, oder wenn aufgebrachte Eltern fein Einschreiten als Stadtschulinspektor forderten, leistete seine unverwüstliche Gelassenheit treffliche Dienste. Gar manches erhitzte Gemüth hat er abgekühlt, manches wogende besänftigt. Vor Allem aber war er ein Meister, in allerhand schwierigen Lagen guten Rath zu ertheilen. Doch gemeinlich kam er mit demselben nicht sogleich, sondern erst am anderen Morgen zum Vorschein.

Es konnte nicht fehlen, daß Textor bei dem göttlichen Grunde seiner Gesinnung und bei solchen Gaben des Geistes jede Stellung, welche ihm anvertraut wurde, auf ausgezeichnete Weise behauptete. Als Prediger wurde er von seiner Gemeinde je länger je mehr geehrt und geliebt, und unter seinen Amtsbrüdern gewann er solches Ansehen, daß sie seinem Rathe überall folgten. So wurde er in innigster Herzens- und Sinnesgemeinschaft mit seinem Superintendenten der Leiter der Camminer Synode, welche während der acht Jahre seiner Mitgliedschaft die schwersten, durch die konfessionellen Wirren herbeigeführten Kampfe zu bestehen hatte. Seine klare Einsicht in die verwickelten kirchlichen Verhältnisse bestimmte die Schritte der untereinander innig verbundenen Geistlichen, und seine Entschiedenheit in dem Festhalten und Geltendmachen des reinen lutherischen Bekenntnisses gegenüber den unklaren Unionsbestrebungen stärkte mächtig die Amtsbrüder in gleicher Ueberzeugung. Besonders erquickend war das herzliche Verhältnis in welcher der Selige mit seinem damaligen Superintendenten und Collegen verbunden stand. In ächter Verleugnung und reiner Bruderliebe suchte Einer des Anderen Ansehn in Gemeinde und Synode zu befestigen und zu erhöhen. Unter solchen Umständen konnte sich das Wort bewähren, daß es fein und lieblich ist, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen, und daß da der Herr Segen und Leben verheißt immer und ewiglich! –

So war denn unsern Textor Cammin wieder lieb geworden, wie es ihm sein Sarnow nur gewesen war. Er glaubte wohl nicht, daß es ihm beschieden war, die Hütte seiner Fremdlingschaft hienieden noch weiter zu rücken. Und doch hatte der Herr es so versehen. Nach achtjähriger Thätigkeit, im Jahre 1845, sollte er seine Aemter in Cammin mit der durch den Tod des Schulraths Cawerau an der Königlichen Regierung zu Cöslin erledigten Stelle vertauschen. Kostete es ihm schon einen harten Kampf, als er sich für die Versetzung von Sarnow nach Cammin entscheiden sollte, so war dieser doch nicht gegen den zu rechnen, der jetzt sein Herz beben machte, da er zugleich mit der Uebernahme eines ihm mehr unbekannten Berufs sich von dem Amte trennen mußte, in welchem so recht eigentlich die Wurzeln seines Lebens ruhten. Nur nachdem ihm der Rücktritt in das Predigtamt verheißen war, wenn er die Trennung von demselben nicht ertragen könne, ließ er sich willig finden, in Gottes Namen den Ruf anzunehmen. So ward denn auch dem Schreiber dieses die Freude, mit dem theuren Freunde, von welchem er zwei Jahre zuvor bei seiner Berufung in sein erstes Pfarramt zu Coprieben, Synode Neustettin, scheiden mußte, nicht nur in amtliche Berührung zu kommen, sondern ihn auch bei seinen Inspektionsreisen wiederholt bei sich zu haben. Erfreulich war es zu sehen, wie bald der Vollendete in seinem neuen Wirkungskreise so ganz zu Hause war, wie er mit Bewahrung seiner Eigentümlichkeit dieselbe Treue und völlige Hingabe an die mannigfachen, oft sehr verschiedenartigen Arbeiten seines Berufs festhielt, die ihn als Pastor charakterisirte. „Die Lehrer und ihre Schulen sind jetzt meine Gemeinde,“ äußerte er einst in trautem Zwiegespräch, „und kehre ich auch, wenn die Gelegenheit sich bietet, gern zur Kanzel zurück, so darf mich das nicht hindern, alle Kräfte auf das jetzt vor mir liegende Ziel zu richten; es heißt vorwärts, nicht rückwärts sehen.“ Dem gemäß war sein Eifer, in welchem er das Kleinste wie das Größte mit gleicher Liebe umfaßte, so daß er nicht nur den Schulen selbst, sondern auch den Wohnungen und äußeren Verhältnissen der Lehrer seine speziellste Aufmerksamkeit schenkte, um überall aus eigener Anschauung zu wissen, wo Abhülfe noch thue. Denn was er war und that, das war und that er ganz; jede Halbheit war ihm verhaßt. Wir sind gewiß, daß die so kurze Zeit seiner Amtsführung in Cöslin ihm manches Herz zugewendet, das sein noch jetzt in dankbarer Liebe gedenkt.

Doch hatte Textor kaum Ein Jahr dort gewirkt, als ihm schon ein neuer Ruf in die durch den plötzlichen Tod des Schulraths Ulrich erledigte Stelle nach Stettin ward. Anfangs ward ihm dieselbe nur interimistisch, im November 1846 jedoch definitiv überwiesen, und nahm er sie um so freudiger an, weil er zugleich als Mitarbeiter des Königlichen Consistoriums dem kirchlichen Gebiete eine Kräfte wieder widmen konnte; auch ward er dadurch mit einer in Stettin lebenden hochbetagten Mutter und seinen Geschwistern vereinigt. Das Glück des Beisammenlebens sollte jedoch nicht lange währen. Schon nach wenigen Wochen mußte er die geliebte Mutter und einige Monate später die theure Gattin in das Grab legen, welche ihm fünf Kinder hinterließ, von denen das jüngste erst wenige Monate alt war. Seine Seele, stille in Gott, ertrug alle diese herben Schmerzen in christlicher Ergebung, und ließ sich durch sie nicht in den Pflichten seines schweren Berufs lähmen, ja es schien fast, als ob sein Eifer dadurch nur vergrößert sei.

Unermüdlich thätig in seiner Arbeit, wußte er die Zeit doch so auszukaufen, daß er noch einige Stunden erübrigte, die er den Seinen und den freien Vereinen zur Beförderung des Reiches Gottes schenkte. Wie er schon in Sarnow und Cammin der Bibelgesellschaft und dem Missionsverein mit thätiger Liebe angehört hatte, so trat er beiden Vereinen bald nach seiner Ankunft in Stettin bei, und übernahm willig die Mitgliedschaft in dem Comite des letzteren, als er durch die Generalversammlung im Mai 1848 dazu gewählt worden war. Mit besonderer Liebe bemühte er sich um die Gründung des dortigen Vereins für die innere Mission, von dem er für die Zukunft reichen Segen für jene Stadt und die ganze Provinz hoffte. Er brachte diesem Vereine große Opfer an Zeit und Geld, und bekümmerte sich sorgsam um die Thätigkeit desselben, wie er gleichfalls später, als dieser mit dem Vereine zur Erziehung sittlich verwahrloster Kinder sich enge verband, und er als Präses in den Vorstand gewählt war, mit rastloser Sorge für den nöthig gewordenen Neubau des Rettungshauses in Jülichow mitwirkte. Da schien ihm denn das Leben noch einmal zu lächeln, besonders als ihm der Herr in seiner zweiten Gattin, welche , so ganz den Werth eines so seltenen Mannes zu schätzen wußte, und mit ihm in der innigsten Seelengemeinschaft lebte, eine liebende Mutter für seine unmündigen Kinder zuführte. Ja, als ihn des Königs Majestät im Januar 1850 zum wirklichen Mitglieds und Rath des Consistoriums von Pommern ernannte, aus welchem er seit Jahresfrist sich zurückgezogen hatte, als nach dieser Ernennung er auch die Zusage erhalten, daß ihm bei seinen vielfachen Berufsgeschäften Hülfe gewährt werden solle, als auch seine sonst wankende Gesundheit sich zu kräftigen schien: sah der Heimgegangene mit großer Freudigkeit in die Zukunft, weil die Mitwirkung in den kirchlichen Angelegenheiten, mit denen sein Leben verwachsen war, das höchste Interesse für ihn hatte. Aber „meine Gedanken sind Nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege“ spricht der Herr, Herr! Kaum hatte unser Freund das neue Amt, in welches so Viele mit Dank gegen Gott ihn eintreten sahen, wirklich übernommen, als der Herr ihn am 25. Mai jenes Jahres aus seiner vollen Thätigkeit plötzlich zu sich rief! Sein Heimgang war wie sein Leben: stille in Gott; er schmeckte die Bitterkeit des Todes nicht, und schied, bereit, sein Hüttlein abzulegen, in stillem Gebete von den Seinen, der theuren Gattin seine fünf unmündigen Kinder als ein heiliges Vermächtniß hinterlassend.

Wir sagten: „bereit, sein Hüttlein abzulegen,“ und können solches mit guter Zuversicht, da wir wissen, wie der Selige mit dem Apostel „Lust hatte abzuscheiden und bei Christo zu sein,“, ja wie so herzlich er sich oft aus der Fremdlingschaft nach der Ruhe der Heimath dort oben sehnte. Auch sein plötzlicher Heimgang beirrt uns nicht in solcher Zuversicht, da seine irdische Wallfahrt Zeugniß war, wie er bereits hier das ewige Leben durch den Glauben an Jesum Christum ergriffen. Will der christliche Leser deß weiter Zeugniß, so erlaube er uns, daß wir schließlich den uns zu früh Vollendeten selbstredend einführen, und einen Brief von ihm, den er wenige Tage vor seinem Hingange zu seinem Herrn einem todtkranken Freunde auf der Insel Rügen schrieb, so weit er unserem Zweck dient, mittheilen. Er schreibt: „Der nächste Termin, welcher mich nach Greifswald rufen „wird, wird wohl in den August d.J. fallen. Kann ich irgend, so komme ich dann nach Rügen, sollte es auch in der Erndte sein. Finde ich Dich dann noch, so will ich’s Gott danken, wo aber nicht – nun, wir kommen bald nach. Es summt mir seit Wochen immer still in Ohr und Herzen: und wenn ich ausgehauchet, so scharrt man mich in’s Grab.“ – „Hätte ich die fünf Kinder nicht, und was mir Gott sonst Liebes gegeben und wiedergegeben hat, was klagen und trauern und zagen würde, wenn Er mich abriefe und ich könnte, däucht mir, frohlocken, wenn Er sagen würde: Es ist genug!“ „Denn es ist, wie P. Gerhard sagt: „Die Herberg‘ ist zu böse, des Jammers ist zu viel; ach komm, mein Gott, und löse mein Herz, wenn Dein Herz will.“ „Doch die Tage und Jahre eilen, und ein kurzes Warten reißt uns ohnehin zum Ziel. Darum nur noch eine kleine Geduld bis die Nebel „fallen und die Seele durchbrechen wird mit dem Jubelliede: „Sieg! Sieg! mein Kampf ist aus, nun Hab ich „meine Krone!“ Mein lieber Bruder, das Alles sage ich aus dem allererbärmlichsten Glauben, der im Gebete ist, wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel, dem um Trost oft sehr bange ist, der an That wenig oder nichts aufzuweisen hat der nur zu oft wie ein Lahmer strauchelt, der matt und träge ist zum Worte Gottes und zum Dienste des Herrn, der aber im Sinken und Unterliegen immer von dem Namen Jesu Christi nicht lassen kann, und vom dem treuen Hirten nicht losgelassen wird, der sich, wie ein Küchlein unter die Flügel der Henne, in die Barmherzigkeit Jesu Christi verbirgt und zu Seinen Wunden flüchtet, und darum nicht verzagt, wenn tausend Verkläger und Sünden ihn anklagen und zehntausend Teufel ihm Hohn sprechen. Ich weiß nichts mehr zu rühmen, und will nichts mehr sein und haben, als daß Jesus Christus mir Barmherzigkeit schenkt, und mich um Seines Namens willen annimmt, während ich weiß, daß ich nichts Werth bin. Darin bin ich nun sorglos und fröhlich wie ein Kind, und finde immer, daß, wenn es auch tausendmal Nacht in mir und um mich war, dieses Gnadenlicht meines einzigen Helfers immer wieder aufgeht. Ich weiß, daß Er Deinem Schmerzenslager nahe ist, und das tröstet mich. Ja Deine Schmerzen selbst sind Schläge Seiner Liebe, denn weil Er Dich lieb hat, züchtet Er Dich. O, zweifle nicht! und wenn Du zweifelst, verzage nicht! und wenn Du verzagst, verzweifle nicht! und solltest Du verzweifeln eine Weile: Er läßt Dich nicht los! Hat Er Dich auf so manchen verkehrten Irrwegen nicht losgelassen, so jetzt in der Noth, im Feuer der Trübsal gewiß nicht!“

So unser Freund tröstend und selbst getröstet! Wir aber schließen mit dem Gebete: „Meine Seele müsse sterben des Todes der Gerechten, und mein Ende werde wie dieser Ende!“ Amen! –