Johann von Staupitz

Johann von Staupitz

Bei einer guten Anzahl großer Kirchenlehrer ist der Lebensgrund christlicher Frömmigkeit, aus dem ihr ganzes Denken und Thun sich entfaltete, von frommen Müttern gelegt worden. Nicht wenige aber haben auch neben solcher Mutter oder statt ihrer einen geistlichen Vater gehabt: einen Mann, oft nicht blutsverwandt und nur durch höhere Leitung ihnen zugeführt, welcher der jugendlich ringenden, kämpfenden, vielleicht niedergedrückten und irregehenden Seele Licht und Trost gab und ihr die wahre Bahn für die irdische und himmlische Zukunft wies. Ein geistlicher Vater dieser Art für den Jüngling, der nachmals ein Reformator der Kirche, ein Prophet deutscher Nation werden sollte, für unsern Luther, war Johann von Staupitz. Darum verdient sein Name in der evangelischen Kirche stets in gesegnetem Gedächtniß gehalten zu werden.

Er verdient es aber nicht allein um Luthers, sondern auch um sein selbst willen. Freilich ist er nicht, obwohl der Kampf um Erneuerung des reinen Evangeliums noch zu seinen Lebzeiten entbrannte, auf den Wahlplatz hervorgetreten, vielmehr hat er sich in die beschauliche Stille zurückgezogen: aber darin ist er nur seinem eigenthümlichen Wesen getreu geblieben und hat sich in den Schranken gehalten, die ihm von Gott verordnet waren. Hätte er sich zu dem gedrängt, wozu er nicht gesendet war, so wäre er in sich selber unwahr geworden. Auch im Reiche Gottes hat alles seine Zeit und jeder seine besondere Sendung. Bevor die Reihe der Thaten beginnen konnte, welche, in das ganze Leben unseres deutschen Volkes eingreifend und dasselbe erschütternd, eine neue Gestalt des christlichen Glaubens und Gemeinschaftlebens hervorrufen sollten, mußte tief innen in den Gemüthern, zunächst unbekümmert um die Verderbnisse der Welt und der Kirche draußen, der Grund reiner Gottes- und Christusliebe, der Grund evangelischen Glaubensgeistes wenigstens bei den Empfänglichen gelegt werden: denn nur aus diesem Grunde konnten die rechten Thaten für das Evangelium herauswachsen, und nur so konnte im voraus eine größere Anzahl von Menschen zubereitet werden, welche, von jenen Thaten vollends erweckt und von der später folgenden, noch mächtigeren Verkündigung der Buße und des Glaubens ergriffen, den Kern einer neuen evangelischen Gemeinde bildeten.

Diese vorangehende innere Grundlegung war nicht ein Kämpfen und Streiten, sondern ein stilles Pflanzen und Pflegen, und der Mittelpunkt davon lag in dem Streben, die lautere, auf alles Eigene verzichtende Gottesliebe in den Herzen zu entzünden, durch die Liebe und Nachfolge des Erlösers zur vollkommenen Einigung mit Gott und zum wahren Seelenfrieden zu führen: das allein war der rechte Weg, auf dem inmitten all‘ des äußerlichen und todten Werkwesens, welches damals die Kirche beherrschte, ein innerlich lebendiges Christenthum zu gewinnen und das zu erreichen war, was ein Liedervers in den treffenden Worten von Gott erfleht: „Gib, daß deiner Liebe Glut unsre kalten Werke tödte!“ Die Männer, welche, dieses Weges gehend, auf die Reformatoren und ihr Werk, vornehmlich auf Luther, einen großen Einfluß hatten, und unter denen viele der Besten unserm Volk angehörten, aus deutschem Sinn in deutscher Zunge sprachen und schrieben, nennt man Mystiker. Unter ihnen nimmt Johann von Staupitz durch seinen einfachen, practischen, evangelischen Geist eine vorzügliche Stelle ein, und wie sehr wir Ursache haben, ihn auch ganz für sich betrachtet als Mann christlichen Lebens, christlicher Erfahrung und Lehre zu verehren, werden wir sehen, wenn wir auf dem Grunde einer kurzen Erzählung seines einfachen Lebenslaufes uns das vergegenwärtigen, was er uns als den Gehalt seines innern Daseins in mehreren Schriften hinterlassen hat.

Johann von Staupitz stammte aus einem alten, meißnischen Adelsgeschlecht und war schon dadurch im bürgerlichen Leben günstig gestellt. Aber sein Sinn scheint von früher Zeit an mehr auf das Innerliche gerichtet gewesen zu sein. Um sich ganz den Studien und frommen Betrachtungen widmen zu können, trat er in den Augustiner-Orden. Auf mehreren Universitäten erwarb er sich die Bildung der damaligen Schulen und wurde auch zu Tübingen mit Ehren Doctor der Theologie; aber es war nicht sowohl Scharfsinn des Denkens oder Reichthum der Gelehrsamkeit, wodurch er hervorragend und wirksam werden sollte, sondern die Kraft seines Wesens lag in der Fülle seiner christlich frommen. Innerlichkeit und in der milden, heitern Würde seiner Persönlichkeit. Unbefriedigt von der Philosophie, wendete er sich zur Schrift und die Schrift führte ihn zum Leben. Er erkannte, daß nicht bloß das Wissen den Theologen mache, sondern die ganze Gemüthsverfassung, die Bewährung des Erkannten durch die That. So ward er Erfahrungs- und Lebenstheologe, und machte in seiner Person das wahr, was Luther nachmals in dem berühmt gewordenen Spruche so ausdrückte: „den Theologen bilden Gebet, Nachdenken und Anfechtung.“ Indeß gab sich Staupitz nicht einer bloß beschaulichen Innerlichkeit hin. Er hatte zugleich einen practischen Sinn; sein gesunder Verstand, seine vielseitige Bildung und gewinnende Beredsamkeit befähigten ihn zum Umgang mit Menschen aller Art; seine Abstammung und Erziehung, seine anziehende, würdevolle Erscheinung und seine Geistesgegenwart machten ihn besonders auch zum Umgang mit Großen geschickt. Er genoß das vorzügliche Vertrauen seines Churfürsten, Friedrichs des Weisen, und wurde von demselben vielfach zu Rathe gezogen, auch mit Erfolg zu Gesandtschaften verwendet; er bewegte sich mit Freiheit in den vornehmen Kreisen, so daß er eines Tages, da ihm einer der sächsischen Herzoge bei der Tafel eine verfängliche Frage vorlegte, dergestalt antwortete, daß der Churfürst lachend hinzufügte: „Nun wollt Ihr noch mehr fragen? Staupitz wird sich nicht stumm finden lassen.“ In Summa – um Luthers Worte über „seinen“ Staupitz zu gebrauchen – „das war ein großer Mann und nicht nur in Schulen und Kirchen gelehrt und beredt, sondern auch an Höfen und bei Großen angenehm und hochgeehrt. Er hatte einen hohen Verstand, ein redliches, aufrichtiges, adliges Gemüth, nicht unehrbar und knechtisch.“ Diese Eigenschaften: tiefe, fromme Innerlichkeit einerseits, und andrerseits großer Weltverstand, Fähigkeit zum Verkehr mit Menschen aller Art scheinen weit auseinander zu liegen: aber gerade durch die innigste Vereinigung von beiden auf dem Grunde eines „aufrichtigen, adligen Gemüths“ wurde Staupitz am meisten das, was er war, und gewann er die Stellung, in der wir zugleich seine eigenthümliche Sendung anerkennen müssen. Eben dadurch war er, wie kein anderer, geeignet, zuerst in Luthers Seele die Keime tiefen Glaubensgeistes pflanzen und entwickeln zu helfen, aus denen später dessen reformatorisches Thun hervorwuchs, und dann, als die Zeit gekommen war, der Vermittler für ihn zum Wirken in der Welt zu werden, sein Licht unter dem Scheffel der Klostermauern hervorzuziehen und auf den Leuchter einer Universität zu stellen, seine ersten schwierigen Gänge in der Oeffentlichkeit väterlich zu geleiten und einflußreich zu schirmen.

In seinem Orden gelangte Staupitz bald zu bedeutendem Ansehen: im Jahre 1503 wurde er vom Kapitel zu Eschwege zum Generalvicar, im J. 1511 zum Provincial von Thüringen und Sachsen, im J. 1515 zum Generalvicar des Augustinerordens in ganz Deutschland gewählt. Der Erfüllung seiner Pflichten als Ordensvorsteher lag er mit Eifer ob und nahm sich, wie wir an Luther sehen, besonders einzelner Brüder mit Liebe und Einsicht an. Aber im Ganzen erreichte er bei weitem nicht, was er für die Verbesserung seiner Gemeinschaft wünschte, und er sagte dann wohl im Unmuth: „Man muß mit den Pferden pflügen, die man hat; und wer keine Pferde hat, pflügt mit Ochsen.“ Ein weit befriedigenderer, erfolgreicherer Wirkungskreis hatte sich ihm indeß schon bei der Gründung der Universität Wittenberg eröffnet. Diese Hochschule, deren Einfluß sich bald über ganz Europa erstrecken sollte, ward im J. 1502 gestiftet. Friedrich der Weise hatte dabei vornehmlich auch unsern Staupitz zu Rathe gezogen, und da Staupitz zugleich der erste Dekan der theologischen Facultät wurde, so lag ihm nun amtlich ob, was ihm zugleich Herzenssache war, für das Aufblühen der theologischen Studien zu sorgen.

Hier tritt uns nun das Verhältniß zwischen Staupitz und Luther zuerst in seiner ganzen äußeren Bedeutung entgegen. Aber dieß veranlaßt uns, auch auf seine entfernteren innerlichen Anfänge zurückzugehen. Staupitz hatte zuerst bei einer Visitationsreise Luther’n als jungen Bruder im Augustinerkloster zu Erfurt kennen gelernt. Durch Gewissensangst ins Kloster getrieben, rang damals der Jüngling Luther durch kirchliche und mönchische Werke in niedrigem Klosterdienst nach Gewißheit der Seligkeit, ohne zum rechten Frieden hindurchdringen zu können. Staupitz, der den edeln Geist in der düstern Verhüllung erkannte, erleichterte nicht nur seine gedrückte Lage, sondern gab vor allem auch seiner Seele die wahre himmlische Nahrung. Er leitete das Gemüth des Jünglings von selbstquälerischen Gedanken und unfruchtbaren Speculationen auf die versöhnende Liebe Gottes in Christo, zeigte ihm, daß die Anfechtungen ein heilsames Zuchtmittel Gottes seien, um ihn zu größeren Dingen zuzubereiten, verwies ihm aber zugleich, „sich aus jedem Humpelwerk eine Sünde zu machen“, und lehrte ihn, sich ganz an den lebendigen Christus, nicht an ein Bild der Phantasie, sondern an den wirklichen, sündenvergebenden Erlöser zu halten. „Ihr wollt“, sagte Staupitz einmal zu Luther, „ein erdichteter, ja ein gemalter Sünder sein und deßhalb nur einen erdichteten und gemalten Heiland haben.“ Und ein andermal, da Luther beim Anblick des Sakraments erschrocken war: „Ei, eure Gedanken sind nicht Christus; denn Christus schreckt nicht, sondern tröstet.“ Zugleich erweckte Staupitz in Luther die Einsicht, daß das Gesetzeswerk nicht zum Frieden führen könne, weil es im Menschen „entweder Vermessenheit oder Verzweiflung“ wirke; und durch beides, diese Ablenkung von der Gerechtigkeit der Werke und jene Hinlenkung zur Gnade Gottes in Christo, führte er Luther’n in die Bahn, auf welcher Gott ihn wirklich, „zu großen Dingen brauchen wollte.“ So in seinem Innern emporgehoben, setzte Luther seine Studien in der Schrift und in den fruchtbareren Lehrern der Kirche mit der Freudigkeit und dem Erfolge fort, daß, als es sich im J. 1508 um Ergänzung der Lehrkräfte in Wittenberg handelte, Staupitz seinen jungen, damals 26jährigen Freund als Mitarbeiter zu sich berufen konnte. Von dieser Zeit an traten beide Männer in ein so inniges Freundschaftsverhältniß, als es die Verschiedenheit des Alters und der Lebensstellung irgend gestattete.

Es ist bekannt, wie Luther bald ein mächtig wirkender Lehrer ward; wie ihn Staupitz im J. 1512 väterlich nöthigte, Doctor der Theologie zu werden; wie er endlich im J. 1517 durch die Streitsätze über den Ablaß ein Feuer entzündete, das sich bald über ganz Deutschland verbreitete. Ob Luther zu diesem ersten öffentlich reformatorischen Schritt eine äußere Anregung von Staupitz empfangen, steht sehr dahin; aber eine innere Anregung ist nicht zu bezweifeln, besonders nach einer Seite hin, die hier so wichtig ist, in Betreff der Lehre von der Buße. Die allererste unter den berühmt gewordenen Thesen Luthers handelt von der Buße, und auch weiterhin geht alles von der wahren Bedeutung der Buße aus. Ohne die Predigt der Buße wäre Luther nicht Luther und sein Werk keine Reformation gewesen. Eben die Erkenntniß über das Wesen der Buße aber war ihm, seinem eigenen Zeugniß zufolge, durch Staupitz aufgegangen. Wie eine Stimme vom Himmel, sagt er, habe Staupitz ihn belehrt, daß nur diejenige Buße die wahre sei, welche von der Liebe und Gerechtigkeit Gottes beginne, und daß, was die gewöhnlichen Lehrer als Schluß und Vollendung der Buße darstellten, vielmehr ihr Anfang sei. „Dieses dein Wort,“ fährt er in dem an Staupitz gerichteten Briefe fort, „haftete in mir, wie der scharfe Pfeil eines Gewaltigen; ich fing an, dasselbe mit den Stellen der Schrift über die Buße zu vergleichen, und siehe alles paßte aufs schönste zu dieser Meinung; so daß, während mir vorher in der Schrift nichts bitterer klang, als das Wort Buße, mir jetzt nichts süßer und angenehmer vorkam.“

So viel ist gewiß, daß Staupitz die ersten kühnen Schritte seines jüngeren Freundes mit väterlicher Theilnahme begleitete. „Das gefällt mir,“ schrieb er in dieser Zeit an Luther, „daß du bei der Lehre, die du predigst, Gott allein die Ehre gibst und alles Gott zuschreibst, nicht den Menschen; Gott aber, das ist klar, kann man nicht zu viel Ehre und Güte beilegen.“ Und in Augsburg, als Luther sich vor dem Cardinal Cajetan verantworten sollte, sprach Staupitz, der ihn begleitet hatte, zu ihm: „Sei eingedenk, mein Bruder, daß du diese Sache im Namen Jesu Christi angefangen hast.“ Aber dennoch mußte eine Zeit eintreten, wo die Wege beider Männer auseinander gingen. Staupitz konnte den jugendlichen Glaubenshelden Luther mild und belebend anregen und auf den richtigen Weg weisen; aber er selbst war kein Heldengeist. Seine ganze Richtung, wesentlich auf Liebe gegründet, war eine vorherrschend innerliche und er folgte ohne Zweifel nur der sichern Stimme seiner von Gott gerade so bestimmten Natur, wenn er sich Luther’n nicht kämpfend zur Seite stellte, sondern in den Gränzen der Aufgabe beharrte, die ihm als Vorbereiter gesetzt war. Für ihn war das Wort Christi ein Wort des Friedens, für Luther ein Wort des Schwertes. Darum, je kühner Luther hervortrat, desto mehr trat der friedsame Staupitz demüthig zurück; und zuletzt blieb ihm nichts übrig, als von dem Kampfplatze hinweg sich in gesicherte Stille zu begeben. Er ging nach Salzburg, wo er an dem Erzbischof Lang einen Gönner hatte, bei dem er als Hofprediger thätig war. Hier trat er zum Benedictiner-Orden über, wurde im J. 1522 Abt des Klosters St. Peter und später auch Vicarius und Suffragan des Erzbischofs. Bis zu seinem Tode, der am 28sten December 1524 erfolgte, wirkte Staupitz in dem Geiste, den wir an ihm kennen gelernt haben. Er konnte nicht mit Luther Schritt halten, aber er stellte sich seinem Werke auch nicht entgegen; er brachte die Schriften Luthers nach Salzburg und legte in dieser Gegend den Grund zu einer Ueberlieferung innerlicheren und freieren christlichen Geistes, aus der ohne Zweifel zum Theil die späteren evangelischen Bewegungen zu erklären sind, welche die Auswanderung der evangelisch-gesinnten Salzburger im J. 1732 zur Folge hatten. Ja selbst das persönliche Verhältniß zwischen Staupitz und Luther wurde nicht gelöst; es trat wohl einige Entfremdung ein und fehlte auch nicht an Vorwürfen, aber sie konnten doch nicht von einander lassen. Staupitz lud den bedrängten Luther ein, zu ihm nach Salzburg zu kommen: sie wollten miteinander leben und sterben. Luther aber schrieb noch kurz vor Staupitzens Hingang an diesen das schöne und große Wort: „Wenn ich aufgehört habe, dir angenehm und lieb zu sein, so geziemt es mir doch nicht, deiner zu vergessen oder undankbar gegen dich zu sein, durch den zuerst das Licht des Evangeliums in meinem Herzen aus der Dunkelheit aufzuleuchten anfing.“

Wir haben von Staupitz außer einigem weniger Bedeutenden vornehmlich drei Schriften, aus denen wir seinen Sinn und sein inneres Leben zu erkennen vermögen. Ihre Abfassung fällt in die Zeit des Beginnes unserer Kirchenverbesserung und ihre Titel sind folgende: von der holdseligen Liebe Gottes – vom heiligen christlichen Glauben – und von der Nachfolgung des willigen Sterbens Christi. Der Anfang und Schluß der Tractate Staupitzens sind die kindlich gläubigen Worte: „Jesu, dein bin ich, mach mich selig.“ Das war seine Losung und in diesem Worte ist auch Anfang, Mittel und Ende seiner Theologie zusammengefaßt. Der lebendige Christus war ihm alles: der Mittelpunkt der Schrift, die Offenbarung der göttlichen Liebe und Heilsgnade, das einzige alles in sich schließende Vorbild, der Grund der Seligkeit für den Einzelnen und die Kraft der Gemeinschaft für alle Gläubigen, der Ursprung der wahren Einigkeit der Kirche. Hierbei geht Staupitz von dem Puncte aus, der auch für die edelsten deutschen Mystiker vor ihm der erste Lebenspunct gewesen war: von der Liebe, der Liebe Gottes, die durch Christum vermittelt, die wahre menschliche Liebe entzündet. Aber er bleibt nicht bei diesem Puncte stehen, sondern hebt mit aller Kraft auch die Buße und den Glauben und die hieraus entspringende Nachfolge Christi im Gegensatz gegen alles Gesetzes- und Werkwesen hervor, und das ist es, was ihn der Reformation so nahe stellt und zum unmittelbarsten Vorarbeiter derselben macht.

Gott – dieß sind in der Kürze Staupitzens Gedanken – ist die wesentliche, in sich selbst vollkommene Liebe. Diese höchste Liebe muß um ihrer selbst willen und über alles geliebt werden. Aber eben das kann der Mensch, weil es eine Sache der Erfahrung ist, nicht von Andern, er kann es nicht aus seinem natürlichen Verstand, er kann es auch nicht aus dem Buchstaben der Schrift lernen. Der wahre Lehrer der göttlichen Liebe ist der Geist des himmlischen Vaters und Christi, von dem unsre Herzen mit Liebe durchgossen werden. Gott selbst, der die Liebe ist, muß Wohnung in unsrer Seele machen: daraus überkommt sie Kraft, alle Gebote zu vollbringen; daraus, und nicht bloß aus äußerlicher Lernung der Schrift, entspringt das Licht des christlichen Glaubens; daraus fließt auch die wahre Hoffnung und der sichere Trost, die wir nicht auf unsere Werke, auch nicht auf unsere Liebe gegen Gott, sondern nur auf Gottes Liebe gegen uns, auf das, was Gott in uns wirkt, gründen können. Die Liebe Gottes wird uns aber ins Herz gebildet durch Christum, in dem sich die unaussprechliche Liebe des Vaters gegen uns geoffenbart hat: er ist der Fels, in dem das Zündfeuer der Liebe ruht; doch springt dieses nicht heraus, wenn es nicht von dem festen Eisen, dem heil. Geist, herausgetrieben wird. Geschieht aber dieß, dann zünden die Funken in den Herzen der Gläubigen: es entspringt Liebe aus Liebe, aus der Liebe Gottes zu uns unsre Gegenliebe gegen Gott. Diese Liebe stehet nicht immer in gleicher Höhe, und der Mensch muß unterweilen in der Entziehung der Liebe seiner Schwäche inne werden, damit er Gott als den alleinigen Erlöser groß mache; doch ist sie ein sicheres, beständiges Werk; und wo sie vollkommen ist, da gebiert sie Gleichförmigkeit mit Gott und seinem Willen, macht von allem Eigenen und allen Creaturen ledig und bewirket, daß der Mensch, des eigenen Lebens und Verdienstes vergessend, nur Gottes Ehre und Willen sucht, mit Gott zu einem Geiste vereinigt wird.

Die rechte Gewißheit der göttlichen Liebe haben wir im Glauben an Christum. Glaube, daß er der Sohn Gottes sei und zweifle nicht, oder begehre wenigstens festiglich, an ihn zu glauben, so bist du in ihm gesegnet. Die an Christum glauben, dürfen ihrer Versehung zur Seligkeit gewiß sein; sie werden gerechtfertigt und erneuert und haben Vergebung der Sünden, wozu weder Beichte, noch Reue, noch irgend ein Menschenwerk hilft, sondern nur der Glaube an Christum. Der Glaube an Christum läßt auch keinen Menschen in ihm selber bleiben, sondern zieht ihn über sich und feiert nicht, bis er uns mit Gott vereinige. Er vereiniget alle Gläubigen also, daß sie in Gott ein Herz und eine Seele gewinnen, und daraus entspringt die Einigkeit der Kirche. Er vereiniget aber auch die Gläubigen mit Christo solchergestalt, daß sie mit ihm ein Leib werden, an welchem er das Haupt ist und sie die Glieder sind, und durch diese Einigung geußt Christus alle geistlichen Gaben, ja sich selbst in unser Herz.

Darum folgt auch aus dem Glauben die Nachfolge Christi, zuerst im Leben, dann und vornehmlich im Leiden und Sterben. Durch die Sünde ist der Tod in die Welt gekommen und hat sich mit der Sünde über alle Menschen verbreitet. Christus hat die Sünde und den Tod überwunden, und ist uns ein Vorbild des rechten Leidens und Sterbens geworden, das Sünde und Tod bezwingt. „Stirb, wie Christus, so stirbst du ohne Zweifel selig und wohl. Wer da will, der lerne von St. Peter sterben oder von andern Heiligen, oder sehe, wie die Frommen ihr Leben schließen. Ich will’s von Christo lernen und niemand anders: Er ist mir von Gott ein Vorbild, nach dem soll ich wirken, leiden und sterben; er ist allein der, dem alle Menschen folgen können, in dem alles gute Leben, Leiden und Sterben aller und jeglicher vorgebildet ist, also daß niemand recht thun, leiden und sterben kann, es geschehe denn gleichförmig mit Christo, in welches Tode aller anderer Tod verschlungen ist.“

Das sind die Grundgedanken unseres Staupitz, die wir zumeist mit seinen eigenen Worten wiedergegeben haben. Wer nun zugleich weiß, was das eigentliche Fundament unserer deutschen Kirchenverbesserung ausmacht: daß Christus als der alleinige Heilsgrund und Vermittler der göttlichen Liebesgnade lebendig in die Mitte gestellt, die Rechtfertigung und Erneuerung des Sünders allein aus dem Glauben an ihn abgeleitet, die wahre Gemeinschaft der Kirche auf ihn gegründet, und überall im Gegensatz gegen alles Menschliche nur Gott und Christo die Ehre gegeben wird, – der wird keinen Augenblick anstehen zu bekennen: die verborgenen Keime von allem dem lagen schon in Staupitzens Seele, und er vornehmlich war auch der nächste lebendige Vermittler, um sie in Luthers Seele einzusenken und zu entwickeln. Luther führte aus, was Staupitz vorbereitet hatte und in diesem war schon vorgebildet, was jener in aller Fülle und Macht im Leben entfaltete.

Aber, wie aufrichtig wir auch den Pflanzenden und den Begießenden verehren mögen, wir können sie doch nur verehren als Werkzeuge in der Hand dessen, von dem, in dem und zu dem alle Dinge sind; und müssen mit dem großen Apostel, der sich rühmen durfte mehr gethan zu haben als alle übrigen, sprechen: „So ist nun weder der da pflanzet, noch der da begießet, etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt.“

Die Zeugen der Wahrheit
Dritter Band
Piper, Ferdinand (Herausgeber)
Verlag von Bernhard Tauchnitz
Leipzig 1874