Symeon

Kurz vor der furchtbaren Katastrophe, welche dem jüdischen Staat, der Stadt Jerusalem, dem Tempel ein Ende machte, war Jakobus, der Bruder des Herrn, welcher in Verbindung mit den Aposteln Vorstand der christlichen Muttergemeinde zu Jerusalem gewesen war, als Bekenner und Blutzeuge Jesu Christi eines gewaltsamen Todes gestorben. An seiner Statt wurde nun, nach einstimmiger Willensmeinung der Gläubigen, Symeon Vorstand der Gemeinde zu Jerusalem. Außer seinem Charakter, der ohne Zweifel solches Vertrauen begründet hatte, lag, wie der älteste Kirchengeschichtschreiber bezeugt, ein Hauptgrund zur Uebertragung solcher Würde in seiner leiblichen Verwandtschaft mit dem Herrn selbst: er war nämlich, als Sohn des Kleophas, welcher ein Bruder Josephs, des Pflegevaters Jesu, gewesen ist, ein Geschwisterkind Jesu.

Ist nun Symeon kurz vor dem entscheidungsvollen Jahr 70 nach Christo zu der Würde eines Bischofs der Gemeinde zu Jerusalem gelangt, so hat er auch, wie die ganze Gemeinde, vor Ausbruch des Krieges und vor dem Anfang der Belagerung durch das Römerheer, die Stadt verlassen und ist mit den Uebrigen nach Pella im Ostjordanland gezogen, wo sie während des Kriegsgetümmels ein stilles Ruheplätzchen unter Gottes Schutz gefunden haben. Nach Vollendung des göttlichen Strafgerichts über Israel siedelte sich die Christengemeinde auf’s Neue in Jerusalem an, wo unter den wenigen verschont gebliebenen Gebäuden auch die christliche Kirche auf dem Berge Zion noch stand. Von der Rückkehr an scheint Symeon sammt der Gemeinde insofern eine Ruhezeit genossen zu haben, als die Kirche Christi damals noch nicht mit Sekten zu kämpfen hatte, vielmehr, wie Hegesippus sagt, eine reine Jungfrau war, und die Verderbniß der Sekten nur erst im Stillen zu schleichen begann. Hingegen läßt sich leicht vorstellen, daß nach der Zerstörung Jerusalems der Haß der Juden sich gegen die Christen in gesteigertem Maaß erhob. Dieser Haß führte endlich, unter der Regierung des Kaisers Trajan, zu einer förmlichen Anklage von Seiten jüdischer Parteien wider Symeon, als einen Nachkommen David’s und als Christen. Es scheint somit die Anklage, ähnlich wie bei dem Herrn Jesu selbst, eine doppelte gewesen zu sein, indem sie theils vom Standpunkt der Politik, theils von dem der Religion ausging. Die Abstammung von David’s Geschlecht hat schon unter der vorhergehenden Regierung des Domitian Anlaß gegeben, daß mehrere Christen, Enkel des Judas, der ein Bruder Jesu war, als verdächtig nach Rom gebracht und vor den Kaiser selbst geführt wurden, der sie jedoch als harmlose arme Leute freisprach. Dennoch wurde jetzt auf’s Neue derselbe Versuch gemacht, den Symeon wegen seiner Blutsverwandtschaft mit Jesu und Abstammung von dem königlichen Geschlechte David’s bei den Römern anzuschwärzen, als ginge er mit Gedanken und Plänen der Aufwiegelung und Usurpation um. Der andere Stützpunkt der Anklage, welcher mit dem ersten wahrscheinlich in Verbindung gebracht wurde, war sodann das Bekenntniß Symeon’s zu Jesu als dem Messias.

So wurde denn der Mann verhört, und zwar mehrere Tage lang unter Anwendung der Folter; aber er legte so standhaft Zeugniß von Christo ab, daß der römische Statthalter Attikus selbst und alle Anwesenden sich höchlich verwunderten, wie ein Greis von 120 Jahren alles das zu ertragen vermochte. Endlich wurde er, auf Befehl des Statthalters, gekreuzigt, um das Jahr 107 nach Christo, wonach Symeon noch älter, als Jesus selbst, gewesen sein muß. So wurde der treue Mann, nachdem er mehr als dreißig Jahre lang die Gemeinde zu Jerusalem geleitet und zuletzt noch vor Heiden und Juden den Namen des Herrn öffentlich bekannt hatte, Jesu Christo, seinem Verwandten und Herrn, auch in der schrecklichen Todesart ähnlich.

G. V. Lechler in Waiblingen.