Otto Schopf

Am 2. Juli des Jahres 1870 wurde Otto Schopf in Heilbronn (Württemberg) geboren, wo sein Vater, Karl Schopf, ein Stickereiwaren-Geschäft besaß. Wie der Vater, der wegen seiner vornehmen, edlen Gesinnung, seines freundlichen Wesens und seiner geraden, wahrheitsliebenden Art bei hoch und niedrig eine allgemein geachtete Persönlichkeit war, zu einer tieferen Sünden- und Heilserkenntnis kam, das beschreibt der Sohn in der Einleitung zu einem Referat über das Thema: „Wert der Sonntagsschularbeit für den Lehrer“, mit folgenden Worten:

In meiner Heimat lebte vor 30 Jahren ein Herr, der des Werktags ein kaufmännisches Geschäft betrieb, des Sonntags aber seinen Laden geschlossen hatte. Aus dem Umstand, daß er seinen Laden Sonntags schloß, dürfen wir aber nicht die Vermutung herleiten, daß er ein besonders frommer Mann gewesen wäre. Es erleuchtet dies schon daraus, daß derselbe Herr gerne seine Sonntagnachmittage dazu benützte, mit seinen Freunden die benachbarten Ortschaften aufzusuchen und dort in irgendeinem Wirtshaus in fröhlichem und harmlosem Geplauder, aber keineswegs in ernster Unterhaltung über göttliche Dinge die Nachmittagsstunden zuzubringen. Seinen Laden schloß er, weil in der Bibel stand: Du sollst den Sabbattag heiligen. Und weil er gewohnt war, das, was er als recht und gut und Gottes Willen einsah, zu tun. Dieses Sonntagsschließen mit der Begründung, die er dafür hatte, brachte ihn in den Geruch der Frömmigkeit. Ein eifriger Pastor, der in jener Zeit in die Gegend kam und allerlei gute Einrichtungen ins Leben rief, wandte sich an unsern frommen Freund und lud ihn ein, sich an einer wohl eben erst gegründeten Sonntagsschule zu beteiligen. Da unser Freund einsah, daß es recht und gut sei, Sonntagsschule zu halten, nahm er die Einladung an und ward also Sonntagsschullehrer. Soweit war die Sache ganz einfach. Aber nun sollte er unterrichten. Er war nicht unbegabt und in christlichen Dingen nicht unwissend; jedoch als er nun vor seiner Kinderschar stand, da fand er, daß Wissen und Lehren zweierlei sei. Nun, er fand einen Anfang, und während er das, was ihm zu Anfang einfiel, sagte, spitzte er seine Ohren, um zu hören, was die Lehrer in den benachbarten Gruppen ihren Kindern sagten. Was er dort glücklich erlauschte, teilte er dann seinen Kindern mit und während er ihnen das Erlauschte mitteilte, war er eifrig besorgt, mit Hilfe seiner feinen Ohren und seiner geübteren Mitsonntagsschullehrer weiteren Unterrichtsstoff einzusammeln. So hat er manchen Sonntag unterrichtet. Aber dabei mußte er sich doch als denkender Mann sagen, daß seine Arbeit sehr mangelhaft sei. Er kaufte sich Bücher, mit deren Hilfe er sich vorbereitete. Er las die Bibel sorgfältiger. Er merkte, daß er Gottes Hilfe brauche, und betete um Weisheit zum Schulehalten. Er merkte, daß er nicht nur Weisheit brauche, sondern daß er Kraft brauche. Denn das sah er bald ein, daß Sonntagsschule halten eine gefährliche Sache ist, die nur scheinbar in einer Stunde Sonntagsschule am Sonntag abgewickelt ist, die einen vielmehr in Wirklichkeit die ganze Woche kostet, weil man eben auch so leben sollte, wie man lehrt. So wurde unser Freund denn immer mehr seines eigenen Elends inne; anstatt ein immer frömmerer Herr zu werden, wurde er in seinen Augen ein immer größerer Sünder, brauchte immer nötiger einen Heiland, brauchte eine Gewißheit der Vergebung seiner Sünden, und er fand sie auch. Er wurde, was nicht zu verwundern, ein immer beliebterer Lehrer, dem die Kinder die Woche durch nachliefen und entgegensprangen, wo sie ihn sahen. Er hatte schließlich eine Gruppe von bald hundert Kindern und war der Leiter einer Schule von ca. 300 Kindern oder mehr.

Gott sind alle seine Werke von der Welt her bewußt. Wenn er sich einen Zeugen der Wahrheit für seinen Dienst zubereiten will, dann fängt er häufig schon lange vor der Geburt, bei den Eltern und Voreltern, sein Vorbereitungswerk an. Das war so bei großen und kleinen Zeugen Christi; darum nimmt es uns nicht wunder, daß dies bei unsrem Freunde Otto Schopf sich ebenso verhielt. Die Gnadenwege, die Gott mit dem Vater ging, um ihn zur Erkenntnis des Sohnes Gottes zu führen, dienten nicht wenig dazu, um dem Sohn den Erzieher zuzubereiten, dessen er, im Blick auf das Ziel, welches für ihn zuvor ersehen war, bedurfte.

Otto verlebte eine glückliche Kindheit in seinem Elternhause. Zunächst war er längere Zeit Kind allein, denn ein Söhnchen, welches den Eltern nach ihm geschenkt wurde, starb nach wenigen Monaten. Als es dann dem Herrn gefiel, den Eltern Schopf ein Töchterlein zu bescheren, war die Freude Ottos groß, und er betrachtete die Kleine als sein spezielles Eigentum, das er mit keinem andern zu teilen brauche. Er war ein äußerst lebhafter, mit reicher Phantasie und schönen Geistesgaben ausgerüsteter Knabe, dem das Sitzen auf der Schulbank oft eine saure Lektion war. Aber treue Vaterliebe wußte den Sohn zum Lernen anzuspornen und ihm Liebe zu Gott und seinem Worte früh ins Herz zu pflanzen. Der Sohn genoß die Liebe des Vaters und der mit zarter Liebe ihn umgebenden, treu fürsorgenden Mutter mit vollen Zügen und vergalt die Elternliebe mit kindlichem Vertrauen und dankbarem Gehorsam. Daß in dem Herzen des Knaben schon in früher Jugend ein starker Zug nach oben sich bemerkbar machte, geht aus etlichen Versen hervor, die er im Alter von 15 Jahren niederschrieb, und die wir hier folgen lassen.

Mein Kämmerlein.

Bin ich beim Lampenscheine
In meinem Kämmerlein,
So ganz mit mir alleine, –
Wie ist’s so traut und fein!
Im Kämmerlein, im kleinen,
Da ist mir’s nicht zu eng,
Da flieh ich hin, zu weinen,
Weg aus der Welt Gedräng’.
Hier ruh ich, wenn ich müde,
Hier trag ich her mein Leid,
Hier grüßt mich süßer Friede
In einer Welt voll Streit.
Hier, fern vom Weltgetriebe,
In weihevoller Ruh,
Find ich den Quell der Liebe
Und lausche selig zu.
Da däucht mich, fern von allen
Mit meinem Gott allein,
Gleich weiten Tempelhallen
Mein kleines Kämmerlein.
Und muß aus deinem Frieden
Ich in die Welt hinaus,
Durch Freund und Leid hienieden,
Durch manchen harten Strauß, –
Im Sonn- und Wetterscheine
Zieh ich landaus und ein:
Stets denk ich an das kleine Alltraute Kämmerlein!

1885.

Am 18. Mai 1884 trat der Vierzehnjährige in den Jünglingsverein seiner Vaterstadt ein. Ebenso beteiligte er sich nun als Helfer in der Sonntagsschule. Bei seiner leichten Auffassungsgabe fiel es ihm gar nicht schwer, die Kinder zu interessieren und ihnen die biblischen Geschichten zu erzählen. Er verstand es auch, treffende Nutzanwendungen zu den Lektionen zu machen, so daß er bald als ein gewandter und fähiger Sonntagsschullehrer galt. Im Jünglingsverein wählte man den kaum Sechzehnjährigen in den Ausschuß, und doch fehlte es bis dahin dem begabten und beliebten Jüngling noch an der eigentlichen Herzenserneuerung. Ehe man zur Höhe wahrer Gotteserkenntnis kommen kann, muß man in die Tiefen der Selbsterkenntnis hinuntersteigen. Dieser Abstieg, der keinem erspart bleiben kann, der in den Himmel eingehen will, war für den lebensfrohen Jüngling mit tiefen Demütigungen verbunden. Er lernte die Sünde mit ihrer furchtbaren Macht kennen und erfuhr die eigene Machtlosigkeit gegenüber der Versuchung. Wie dankbar war der Sohn, daß er in den Stunden heißen Kampfes in seinem Vater einen verständnisvollen Freund fand, dem er sein ganzes Herz sagen und von dem er sich zurechthelfen lassen konnte. Das nachfolgende Gedicht, welches Schopf als 24jähriger Jüngling niederschrieb, läßt uns einen Blick tun in die Gedanken und Gefühle, die sein jugendliches Herz bewegten.

Rückblick auf die Kindheitszeit.

Ihr meiner Kindheit goldne Tage,
Wie weit liegt ihr zurück, wie weit!
So reich an Freude, arm an Plage, –
Doch nicht des Lebens schönste Zeit!

Wie ich auch trunk am Freundenbronnen, –
Nie ward ich satt, der Durst ward mehr;
Ich spielte in des Glückes Wonnen, –
Mein armes Herz blieb friedeleer!

Weil tief geschrieben ins Gewissen
Mir früh schon meine Sünde stand,
Wie wälzt’ ich nachts mich in den Kissen,
Von tiefer Unruh übermannt!

Ich kämpfte, ach, ich schwacher Streiter,
Mit einem tausendfachen Feind;
Ich strebte höher, tiefer, weiter,
Doch schien der Sieg mir stets verneint.

Kein Beten wollte Ruhe bringen,
Denn ach, dem Vorsatz ungetreu,
Der mich betrog, in alte Schlingen
Fiel ich nach kurze Lauf aufs neu.

Bei halbem Mühen kein Gelingen,
Bei halbem Streben nichts geschafft,
Bei halbem Wollen kein Vollbringen,
Bei halbem Hoffen keine Kraft!

So mußt’ ich sieglos weiter ringen,
Bis ich’s gelernt, an mir verzagt,
Zu Jesu Kreuze durchzudringen,
Bis ich’s allein auf ihn gewagt!

Am 1. Februar 1886 trat Otto in einem Heilbronner Handelshaus in die Lehre, um sich dem Kaufmannsstande zu widmen. So konnte der Sohn, während sich seine Ausbildung vollzog, ruhig daheim im Elternhause weilen und die väterliche Aufsicht, die treue Fürsorge der Mutter und die Liebe der jüngeren Schwester ungestört genießen und die reichen Anlagen seines edlen Gemütes weiter entwickeln im Kreise liebender Angehöriger.

Nach beendeter Lehrzeit sollte Otto Schopf seine Militärpflicht erfüllen. Wie dies zunächst verhindert, er aber anstatt dessen nach der großen Stadt London geführt wurde, das mag er uns selbst erzählen. Er schrieb darüber in dem Jünglingsblatt: „Timotheus“ (Verlag: Stadtmission Witten) im August 1910 folgendes:

Ein gnädiger Strich durch die Rechnung oder: Wie ich nach London kam.

Kein geringerer als Kaiser Wilhelm II. ist Schuld daran, daß ich aus meinem schwäbischen Heimatstädtchen ziemlich unerwartet in die größte Stadt der Welt versetzt wurde. Und das kam so: Ich sollte am 1. Februar 1889 meine dreijährige Lehrzeit beendet haben, sollte dann zwei Monate in dem Geschäft meines Vaters arbeiten und am 1. April in das in meiner Vaterstadt liegende Infanteriebatailion als Einjähriger eintreten. So hatten wir Menschen gedacht. Als ich nun eines Tages einem meiner Freunde diesen sehr einfachen und naheliegenden Plan entwickelte, erfuhr ich, daß ausgerechnet am 1. April 1889 zum erstenmal keine Einjährigen mehr in Städten, die nicht Universitätsstädte seien, sollten aufgenommen werden. Also habe unser höchster Kriegsherr verfügt. Was nun? Da es mir fest stand, daß ich erst meiner Militärpflicht genügt haben müsse, ehe ich, wie es bei uns Heilbronner jungen Kaufleuten üblich war, das Ausland besuchte, so mußte ich eben nun – so schien es mir – bis zum Herbst mit meinem Eintritt zum Militär warten und mir für die Zwischenzeit irgendeine Volontärsstelle suchen. Ich schrieb ein paar Briefe, die mir aber nichts anders als eine freundliche Ablehnung brachten; denn für ein halbes Jahr wollte niemand einen Volontär haben. ich hatte schon damals gelernt, meine Wege Gott anzubefehlen, und so erwartete ich denn auch von ich, allerdings mit nicht sehr festem Vertrauen, eine Lösung meiner Zukunftsfragen. Als ich aus meiner Lehre entlassen war, reiste ich zu Verwandten, um mich wenigstens für kurze Zeit von den Strapazen der Lehrzeit zu erholen. Kaum war ich von zu Hause weg, so erhielt ich eine Nachricht, die, wie sich später herausstellte, für mein ganzes Leben von entscheidender Bedeutung war.

Ein Geschäftsfreund meines Vaters schrieb an diesen, ob er unter seinen früheren Lehrlingen keinen jungen Mann wisse, der in ein großes Londoner Engros-Geschäft als deutscher Korrespondent eintreten könne. Mein Vater antwortete ihm, er wisse augenblicklich unter seinen früheren Lehrlingen niemand, wohl aber sei sein eigener Sohn vor kurzem aus der Lehre entlassen, und der sei allerdings, wenn er nicht für den Posten noch zu jung sei, zu dessen Uebernahme wahrscheinlich bereit. Gleichzeitig verständigte mich mein Vater von dieser Nachricht, und der Geschäftsfreund forderte mich auf, an den Chef der Londoner Firma einen Offertbrief zu schreiben.

Nach London! – Das war keine Kleinigkeit für einen etwa 18½jährigen jungen Mann. Ich hatte stets mit Abneigung an London gedacht. Ruß und Nebel und unliebenswürdige Engländer standen vor meinem Geist, wenn ich das Wort London hörte, und dazu das ganze Treiben einer ungemütlichen, fremdsprachigen Großstadt. Dann aber war ich mir bei allem jugendlichen Selbstbewußtsein doch über manchen meiner Fehler und Mängel klar und sagte mir, daß all die Rücksichten, die ich in meiner Lehre vielleicht als Sohn meines Vaters genossen hatte, in einem Geschäft in London wegfallen würden. Es steht noch vor meiner Seele, wie wenn es gestern wäre, wie ich mir sagte: jetzt heißt es „auf sich selber steht er da ganz allein.“ Ich ahnte, daß ich jetzt nur ganz allein noch mit dem lebendigen Gott rechnen könne, und das schien mir damals keine so selige Tatsache wie heute. Es war mir eine feierlich ernste Wahrheit, daß ich nun „nur“ auf Gott angewiesen sein sollte, und obwohl ich mich schon über drei Jahre entschlossen hatte, Jesu nachzufolgen, so erwartete ich doch Gottes Hilfe mehr auf Grund meines Wohlverhaltens ihm gegenüber, als auf Grund seiner Gnade.

Doch wie dem auch war, ich betete zu ihm um seine Leitung und Hilfe und womöglich um ein gutes Gelingen der an mich herangetretenen Sache, und dann schrieb ich meinen Offertbrief an meinen Londoner Chef und suchte nach Jakobs Art mich in demselben bei aller anständigen Zurückhaltung doch in einem möglichst günstigen Lichte darzustellen. Bald kam denn auch Bescheid aus London, daß ich mich dem Seniorchef des Hauses in Frankfurt vorstellen solle. Und so fuhr ich denn erwartungsvoll nach der alten Kaiserstadt. Ein hochfeiner Diener empfing mich im Hause meines Chefs, nahm mir meine Karte ab und führte mich dann zu dem alten Herrn. Hier hatte ich ein ein- bis zweistündiges Examen zu bestehen. Der alte Herr verstand es, während er sich scheinbar ganz harmlos mit mir unterhielt, mir nach allen Richtungen auf den Zahn zu fühlen; aber ich verstand auch, was er wollte, und wachte, so viel ich konnte, über meine Worte. Lange Zeit ließ nichts in seinen Worten und Mienen ahnen, ob er mit dem Resultat des mit mir angestellten Examens zufrieden sei. Endlich fing er an, mir Ratschläge zu geben, wie ich mich in Anbetracht des englischen Klimas zu kleiden hätte, und da merkte ich mit Befriedigung, daß er doch wohl daran dachte, mich zu engagieren. und richtig, endlich ging er soweit aus sich heraus, mir zu sagen, daß er glaube, ich könne den Londoner Posten ausfüllen. Ein paar Tage später bestätigte und erweiterte er dann brieflich, was er mündlich gesagt hatte. Und so war ich denn wenige Tage, nachdem ich meine Lehre zu Ende hatte, im Besitz einer verhältnismäßig gut bezahlten und recht interessanten Stelle in einer großen Weltstadt.

Ehe ich engagiert war, hatte ich viel gebetet und es auch als eine Gnade angesehen, wenn ich die schöne Stelle bekommen würde. Nun aber mein Gebet erhört war, dankte ich zwar als wohlerzogener christlicher Jüngling meinem Gott; aber unter meinen Dank mischte sich doch ein großer Prozentsatz Selbstzufriedenheit. ich tat mir doch etwas darauf zugut, daß ich so klug gewesen war, eine so schöne Stelle zu bekommen. Ich erinnerte mich mit Behagen meiner guten Zeugnisse, von denen ich doch selbst vorher hatte sagen müssen, daß sie zu gut ausgefallen waren. Ich dachte wohlgefällig an meine nach meiner Meinung sehr gewandt geführte Unterhaltung mit dem alten Herrn und fand es schließlich ganz natürlich und in der Ordnung, daß ich als der rechte Mann nun auch an den rechten Platz kam. Gewisse bange Gefühle und Fragen, ob ich denn auch wirklich die Probe bestehen werde, wurden schnell wieder zum Schweigen gebracht. Und der große, geduldige und gnädige Gott, der, wie er in allem so unendlich groß ist, auch so groß im Schweigen ist, er schwieg zuerst zu all meinen törichten und selbstgefälligen Gedanken, er ließ sich in seiner Barmherzigkeit gegen ein unreifes und unklares Menschenkind nicht beirren durch meine Blindheit und meinen Hochmut. Zur rechten Stunde sollte ich schon erfahren, was der alte Logan gesagt hat: „Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich fein; was durch Langmut er versäumet, holt durch Schärf’ er wieder ein,“ oder was mit anderen Worten viele tausend Jahre vorher ein anderer, der es aus Erfahrung wußte, gesprochen hatte: „Wer hoch ist, den kann er demütigen.“ Einstweilen sonnte ich mich in meinem neuen, unerwarteten Glück und traf vergnügt die Vorbereitungen zu meiner Uebersiedelung in die Weltmetropole.

So verkehrt ich auch war, das verstand ich doch schon ein wenig, daß der große Gott selbst sichtbar und deutlich in mein kleines Leben hineingegriffen habe, und daß es kein Unglück war, wie ich erst anzunehmen geneigt war, daß unser Kaiser mich im Frühjahr 1889 nicht als Einjährigen haben wollte.

Wenn ich haute auf die mehr als 21 Jahre zurückblicke, die ich seit meinem Austritt aus der Lehre verlebte, so sehe ich mit Staunen und Dank, wieviel Segen mir jenes erste Mal brachte, wo Gott mir einen meiner Pläne durchkreuzte. –

Rückblick auf die Jugendzeit.

Dank sei dir, Herr, des treues Warnen,
Des Müh’n und Locken Tag und Nacht
Mich aus des Listigen Umgarnen,
Aus Nacht zum Licht hindurchgebracht.

Noch stehn der alten Knechtschaft Spuren
In meinem Herzen eingebrannt,
Noch streckt zu leicht nach Kreaturen
Begehrlich aus sich meine Hand.

Noch hat der Wahrheit helle Sonne
Nicht jedes Dunkel ganz erhellt,
Noch steht von eitler Ehr’ und Wonne
Bald da, bald dort mein Fuß umstellt.

Doch du bist Sieger! Deine Gnade
Ist mächtiger als Sündenbann;
Die freie, volle Sündergnade,
Sie bricht, was ich nicht brechen kann.

Sie ist mein Lied, sie ist mein Leben,
Und wenn mein Herz vom Sturm umtost
Darf ich zu dir es froh erheben:
Herr Jesu, du mein einz’ger Trost.

Hatte Otto Schopf in früher Jugend die Güte und Freundlichkeit Gottes in dem sonnigen Familienleben seiner Eltern reichlich genießen dürfen, und hatte er es frühe gelernt, seine Hände zu falten und seine Bedürfnisse und Kümmernisse vor Gott auszubreiten, so gefiel es Gott nun, da er das Elternhaus mit der Fremde vertauschen mußte, sich ihm in seinem Sohne Jesu reichlicher zu offenbaren und ihm den seligen Gottesfrieden zu schenken, der dem bußfertigen Sünder im Glauben zugeteilt wird. Wie das zugegangen und welche Wege Gottes zu diesem Ziele mit dem Jüngling führten, das hat der Mann in reifen Jahren vortrefflich beschrieben, und wir wollen ihn daher hier wieder selber reden lassen.

Wie ich das Glück fand.

Es war im Februar 1889, als ich nach London kam. Ein sichtlicher Eingriff Gottes in mein Leben hatte mich, entgegen allen meinen Neigungen und Plänen nach London gebracht. Wenn mir ein Platz der Erde durch Beschreibungen, die ich gelesen oder gehört hatte, als ein unwirklicher und unerwünschter erschienen war, so war es die alte, große Themsestadt. Aber nun war ich da. Unverdient und ungesucht hatte ich eine für einen Anfänger sehr gut bezahlte Stelle in einem bedeutenden Geschäft der City gefunden. Anfänglich hatte ich Bangen vor der Fremde gehabt, aber bald hatte törichter Hochmut jenes Bangen vertrieben. Ich hatte im Grunde schnell vergessen, wie sehr ich Gottes Leitung und Hilfe für jene Stelle erfleht hatte, und wie unschuldig ich war, daß ich sie bekommen hatte. Ich tat mir vielmehr heimlich ordentlich etwas zugute, daß ich so intelligent gewesen war, eine so gute Stelle zu finden.

Von der Existenz des „Christlichen Vereins junger Männer“ wußte ich wohl. Ich hatte dort auch meine Empfehlungen abgegeben und je und dann einen Besuch gemacht. Aber ich hatte keine große Eile, mich näher mit dem Verein bekannt zu machen. In meinem Dünkel meinte ich, der Verein könne sich freuen, ein Mitglied wie mich zu bekommen, hatte ich doch seit meinem 14. Jahre Sonntagsschule gehalten und im heimischen Jünglingsverein die Stelle eines Ausschußmitgliedes inne gehabt. Aber der barmherzige Gott hatte Mitleid mit mir jungem, hochmütigem Pharisäer und ließ es mich bald erfahren: „Wer stolz ist, den kann er demütigen“ (Dan. 4,34).

In meiner geschäftlichen Stellung wollte es mir nicht recht gelingen. Soviel Uebung ich gerade in deutscher Korrespondenz während meiner Lehrzeit auch gehabt hatte, es gelang mir nicht, die mir aufgetragenen Briefe zur Zufriedenheit meines Chefs zu schreiben. Ich strengte alle meine Kraft an und betete wohl auch. Aber Gott war gnädig genug, meine Gebete nicht in der von mir gewünschten Weise zu erhören. Endlich erreichte die Unzufriedenheit meines Seniorchefs ihren Höhepunkt. Ich sehe mich noch in seinem Privatkontor stehen und höre, wie er unmißverständlich andeutete, er wisse, was er von einem Kommis verlangen könne. Da war es klar, mein Schiff, das mit vollen Segeln und hundert Wimpeln so stolz in die See gestochen war, war auf einer schlimmen Sandbank aufgefahren, und ein Windstoß um den andern beraubte es seines Schmuckes und zerzauste ihm seine Segel. Die einzige Aussicht schien, daß ich im besten Fall mit Schimpf und Schande nach wenigen Monaten wieder nach Hause zurückkehrte.

So hatte ich es bitter gekostet: „Gott widerstehet dem Hoffärtigen.“ Jetzt wurde ich innerlich zerbrochen und zerschlagen. Ich merkte, daß es sich nicht um geschäftliche Dinge, nicht um eine äußere Lebensfrage, sondern um eine Frage des inneren Lebens handele. So alt ich werde, werde ich wohl nie vergessen, wie ich an jenem Mittag am General Post Office vorbei über die Newgate Street ging, und wie ich dann, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei mir erwägend, zu dem Schluß kam, daß ich meinem Gott sagte: „Ich bin bereit, mit Schimpf und Schande nach Haus zurück zu kehren, wenn es dann nur einmal was Rechtes mit meinem Christentum wird.“

Nun war ich mürbe und klein gemacht. Nun bedurfte ich Licht und Trost und Kraft. Nun hatte ich ein Bedürfnis, in den Verein zu gehen. Die christlichen jungen Männer, die da waren, die hatten mir etwas zu bieten, was ich brauchte. Sie besaßen etwas, was ich nicht besaß. Mein Christentum war eine mühevolle Sache. Ihres war eine Freude, die aus ihren Augen, ihren Worten und ihrem ganzen Wesen leuchtete. Mein Christentum war zumeist Gesetzeswerk, Vorsätze und Anläufe in eigener Kraft. Sie aber hatten eine Kraft, die ihnen überwinden half. Ich erfüllte, wenn ich wollte und konnte, meine religiösen Pflichten, redete auch fromm zu andern. Sie dagegen trieb die Liebe Jesu und sie wollten die Leute nicht zur Frömmigkeit, sondern zu Jesu führen. Ich hatte meine Religion. Sie hatten Christum. Und was der Kernpunkt war, – für sie war die Rechtfertigung durch den Glauben nicht ein Stück ihres Katechismus, sondern der Kernpunkt ihres inneren Erlebens und Lebens. Sie hatten Gewißheit der Vergebung der Sünden; sie hatten, wie Luther, einen „gnädigen Gott“. Sie waren bekehrt von den Abgöttern der Welt- und Selbstliebe, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten seines Sohnes vom Himmel. Sie waren wiedergeboren nicht zu einem in seligen Gefühlen bestehenden und mit diesen Gefühlen wieder vergehenden Hoffen, nein, sie waren wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung des ewigen Lebens.

Wohl hatte auch ich als erste Frage des württembergischen Konfirmationsbüchleins gelernt: „Was soll eines Menschen vornehmste Sorge sein in diesem Leben?“ und als Antwort: „Daß er haben möge eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens, wie Christus sagt Matthäus 6,33: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“ Aber diese Hoffnung hatte ich nicht gehabt. niemand freilich hatte sich früher sonderlich darum gemüht, mich zu dieser Hoffnung zu führen. Gewiß, meine Eltern und ein treuer Freund hatten für mich gebetet.

Aber nun hatte ich gelernt, am ersten zu trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Niemand um mich her ahnte, was in mir vorging. ich kann heute selbst nicht mehr von allem Rechenschaft geben. Aber das weiß ich, daß unter den beredten Zeugnissen des Wandels und Wesens, der Worte und Gebet dieser lebendigen, gläubigen Vereinsmitglieder der Boden meines Herzens bereitet wurde für das Evangelium vom Sünderheiland. Und endlich, eines Sonntagnachmittags in einer Gebetsstunde, wurde es plötzlich licht in meiner Seele. Jenes Wort aus dem 103. Psalm: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten,“ wurde mir lebendig und klar. Nun konnte ich es im Glauben erfassen, nein, das Wort erfaßte mich. Auch mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert. Meine Sünden sind um Christi willen vergeben.

Nun konnte ich nicht nur ein Zeugnis der Lippen davon ablegen, daß „Gott also die Welt geliebet hat, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Von jener seligen Stunde an war und wurde ich auch selbst immer mehr durch Gottes geduldige Liebe ein Zeugnis der Gnade. Nicht nur war in mein Herz der Friede Gottes eingekehrt, sondern mein Leben bekundete es, daß es ein anderes, ein neues mit mir geworden war.

Gerade an der Stelle, wo ich zuerst zu schanden geworden war, zeigte es sich nun, daß Gottes Gnade und nichts anderes als diese unverdiente Gnade jetzt mit mir war. Nun machte ich fast keine Fehler mehr in meinen Korrespondenzen, und es wurde mir das Vertrauen und die Zufriedenheit meiner Prinzipale in einem hohen Maße geschenkt. Ich kann ruhig davon reden; denn ich habe nichts von mir dabei zu rühmen. Wenn mich mein Chef zu Weihnachten, um mir eine Freude zu machen, mit 200 Mark Extragratifikation für fünf Tage nach Hause (nach Württemberg) schickte, wenn er mein Gehalt zu gleicher Zeit um 500 Mark erhöhte und sich bereit erklärte, mir sofort eine weitere Gehaltszulage von 500 Mark zu gewähren, wenn ich mich verpflichtete, länger zu bleiben, so ist das die in Zahlen und kaufmännisch ausgedrückte Quittung dafür, wie sich meine innere Umwandlung im Alltagsleben zeigte.

Diesem klaren, bestimmten Anfang des Glaubenslebens entsprach der Fortgang desselben. Der junge Kaufmann erfüllte nicht nur seine Pflicht im Geschäft mit großer Sorgfalt und Treue, sondern er diente fortan auch seinem himmlischen Herrn mit Eifer und Hingabe aller Kräfte. Ja, es war alles neu geworden in dem Leben des jungen Mannes. Das sollte sich auch zeigen, als es nun galt, Proben zu bestehen. Als einst Saul von Tarsus, nachdem er auf dem Weg nach Damaskus eine Begegnung mit dem Nazarener gehabt hatte und nun in dem Hause des Judas in der Gasse, die man die gerade nannte, auf seinem Angesichte lag und betete, sprach der Herr zu Ananias von diesem Beter: „Dieser ist mir ein auserwähltes Rüstzeug, meinen Namen zu tragen vor Heiden und Könige und vor die Kinder Israels! Und ich werde ihm zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen.“ Das sollte unser Freund auch erfahren, daß der Weg zu den ewigen Hütten, zu der Ruhe des Volkes Gottes, zu der himmlischen Herrlichkeit, nicht nur ein Weg des Glaubens und Hoffens, sondern auch ein Weg des Leidens ist.

Zunächst waren es äußere Leiden, die nach dem wunderbaren Rat des Herrn den starken Jüngling im Gehorsam des Glaubens und der Geduld üben sollten. Er wurde von Gelenkrheumatismus angetastet und mußte in der Fremde monatelang in großen Schmerzen daniederliegen. Diese Leidenszeit gereichte ihm zu reichem Segen, denn er konnte es nun Tag für Tag erfahren, daß der Herr treu ist und seine Verheißungen hält, die er den Glaubenden gegeben hat. Als dann die Leidenszeit vorüber war, ging er in seine Heimat, um sich von der schweren Krankheit zu erholen und dann im Herbst 1890 in seiner Vaterstadt seinen Dienst als Einjährig-Freiwilliger anzutreten. Doch wieder war der Weg Gottes anders als der Menschen Gedanken. Schopf trat wohl am 1. Oktober 1890 ein als Soldat, aber nach kaum 10 Wochen wurde er schon als untauglich entlassen. Das Rheumatismusleiden trat nämlich wieder auf und machte dem Soldatendienst recht bald ein Ende.

Während seines Erholungsaufenthaltes in der Heimat war der junge Schopf nicht untätig gewesen. Er hatte den Jünglingsverein, dem er von seinem 14. Jahre an angehörte, besucht und dort sein Zeugnis von der erfahrenen Gnade Gottes abgelegt. Und der Herr hatte dies Zeugnis mit seinem Segen gekrönt. Es entstand eine Erweckung in dem Verein, von der nach 20 Jahren die Spuren nicht verschwunden waren. Bald erkannte Schopf, daß er vom Herrn berufen sei zum Dienst am Wort. und da die Eltern ihrem geliebten Sohn keine Hindernisse in den Weg legten, sondern ihn gerne mit ihrem Segen ziehen ließen, so finden wir ihn in den Jahren 1891-96 auf der Predigerschule in Basel. Dort galt es nun, in ernster Arbeit einzudringen in die unerforschlichen Tiefen des Wortes Gottes und die großen Fragen des Lebens zu erkennen in dem Licht der Wahrheit.

Die Studienzeit war für Schopf eine rechte Segenszeit. Sie gab ihm Gelegenheit, sich in ernster Arbeit für seinen Beruf vorzubereiten, und zeigte ihm auch bald den Weg, auf dem er nach dem Willen Gottes wandeln, und den Kreis, in dem er seine Lebensaufgabe finden sollte.

Außer dem gesegneten Einfluß, der von glaubensstarken Lehrern auf den für das Gute in hohem Maße empfänglichen Schüler ausging, war es die Gemeinschaft mit etlichen seiner Mitschüler, die für sein ganzes Lebenswerk von ausschlaggebender Bedeutung war. Schopf war mit der Absicht zur Predigerschule gegangen, sich nach seiner Ausbildung in seiner süddeutschen Heimat zur Arbeit an der Jugend zur Verfügung zu stellen. Für diese Arbeit schien er der berufene Mann zu sein. Hatte er doch, wie wir gesehen haben, fast von der Kinderzeit an sich auf diesem Gebiete bestätigt. War doch seine Arbeit in England wie auch in seinem Heimatlande vom Herrn reich gesegnet worden. Dazu entsprach es durchaus seiner Neigung, sowie auch seiner vielseitigen Begabung, sich der Jugend hinzugeben, und diese ließ sich gerne von dem eifrigen, liebewarmen Jüngling dienen. Aber der Herr hatte einen andern Weg für seinen Knecht ersehen und ihn zu einer Arbeit vor- und zubereitet, die er vor seinem Eintritt in die Schule nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte.

Das Studium des Wortes Gottes und der Verkehr mit den erwähnten Studiengenossen brachte ihn ans Forschen in Bezug auf die Stellung und die Aufgabe der Gemeinde Christi in der Welt. Es leuchtete ihm bald ein, daß das Staatskirchentum mit seiner rechtlichen Verfassung und seiner durch die natürliche Geburt bezw. im unbewußten Alter erlangten Mitgliedschaft nicht den Anspruch machen könne, als neutestamentliche Gemeinde, als Leib Christi gelten. Anfangs zwar sträubte er sich, mit dem Althergebrachten zu brechen und einen Weg zur Verwirklichung der neutestamentlichen Gemeindeideale zu suchen. Je näher aber die Zeit kam, die einen Abschluß seiner Studien und ein Eintreten in die praktische Arbeit bringen mußte, um so ernster forschte er fragend und betend in der Schrift und um so gewisser wurde es ihm, daß es ihm unmöglich sei, in eine staatskirchliche Arbeit einzutreten.

Durch seinen Studienfreund, den späteren Prediger Gustav Nagel, den Verfasser des Buches „Der große Kampf“ u.a., lernte er die Grundsätze und Arbeitsweise der Freuen evangelischen Gemeinden kennen. Er wurde ein aufmerksamer, interessierter Leser des Blattes „Der Gärtner“ und suchte Gelegenheit, mit diesen Gemeinden Fühlung zu bekommen. Als die Studienzeit im Jahre 1896 zu Ende war – der teure Vater war im September 1895 heimgegangen – machte Otto eine Besuchsreise nach Westfalen, um Ausschau zu halten, ob ihm da nicht der Herr eine seinen Gaben und Kräften angemessene Beschäftigung bereitet haben könne. Der reichbegabte Jüngling hatte den großen Vorzug, daß er von seinem Können, Wissen und Erkennen gar keine hohe Meinung hatte. Er war tief davon überzeugt, daß das Lernen erst bei ihm beginnen müsse, und er war hocherfreut, als sich ihm eine Gelegenheit bot, in eine Arbeit einzutreten, die sich besser für einen werdenden als einen fertigen Mann eignete. Er sagte damals dem Schreiber dieser Zeilen: „Ich fühle mich noch so unfertig, weiß so vieles noch nicht, habe in manchen Dingen noch keine klare Erkenntnis und in vielen, vielen Fragen noch nicht abgeschlossen. Das weiß ich, daß ich keinen Schritt gehen will, den ich nicht klar vor dem Herrn als richtig erkenne, und ich vertraue dm Herrn, daß er mir zur rechten Zeit den rechten Weg zeigen wird.“ Als ihm dann erwidert wurde, wir in den Freien Gemeinden seien auch keine fertigen Leute, wir hätten auch kein abgeschlossenes Lehrgebäude und seien auch darauf angewiesen, Tag für Tag auf die Leitung und Unterweisung des Herrn zu achten; wir hielten selbst grundsätzlich daran fest, daß jeder Arbeiter im Weinberg des Herrn, ja jedes Glied der Gemeinde, letztlich mit seinem eigenen Gewissen vor dem Herrn stehen und seine Entscheidungen vor ihm treffen müsse, daß wir grundsätzlich die Gewissensfreiheit des einzelnen Gliedes, jedes Predigers und jeder Gemeinde anerkennen müßten und also jeder nach seiner ihm von Gott gegebenen Erkenntnis handeln könne, solle und müsse. Da erklärte er, unter solchen Voraussetzungen glaube er, in eine Arbeit dieser Gemeinden eintreten zu können. Weil nun die Gemeinde Witten auf einer Außenstation ein kleines Häuflein Gläubige mit dem Wort des Lebens zu versorgen hatte, kam man dahin überein, Schopf möge, falls er vor dem Herrn seinen Weg klar erkenne und zu der Ueberzeugung gelange, in die Arbeit der Gemeinde eintreten zu sollen, die Station Wattenscheid übernehmen und dort, in Verbindung mit der Gemeinde Witten stehend, seine Arbeit aufnehmen.

Etliche Wochen nach jener Unterredung kam die Zusage, und am 1. November 1896 wurde der junge Prediger in der Gemeinde Witten in seinen Dienst eingeführt und hielt seine Antrittspredigt über 2. Kor. 4,3-6.

Es war kein leichter Schritt, den der junge Prediger tat, als er das ihm angebotene reiche Arbeitsfeld in seiner süddeutschen Heimat ausschlug und die kleine, fast kümmerlich zu nennende Arbeit in Wattenscheid übernahm. Aber der Schritt war aus innerer Notwendigkeit heraus, aus dem Wunsch, den Willen des Herrn um jeden Preis zu tun, geboren; darum wundern wir uns nicht, daß es der erste Schritt war zu einer reich gesegneten Wirksamkeit, zu einer Kette von Kämpfen und Leiden, zu einer fruchtbaren und erfolgreichen Lebensarbeit und zu herrlichen Offenbarungen der Gnade Gottes in dem Leben und Sterben dieses treuen Knechtes Gottes.

Außer der Arbeit in dem kleinen Gemeindlein und der Verkündigung des Evangeliums an die Welt, fand Schopfs reger Geist bald Betätigung in verschiedenen Zweigen der Reichtsgottesarbeit, die im Kreise der Freien evangelischen Gemeinden ins Leben traten. Er arbeitete am „Gärtner“ mit, wurde Vorstandsmitglied der Buchhandlung der Stadtmission, diente bei den jährlichen Konferenzen für Prediger und Evangelisten, und als das Diakonissenhaus „Bethanien“ zu Wetter an der Ruhr seine Tätigkeit begann, da finden wir ihn auch als warm interessiertes, eifriges und erfolgreiches Vorstandsmitglied in diesem Werk des Herrn.

Nach dem Schopf im Sommer 1897 von einem heftigen Rheumatismusanfall mehr als vier Wochen lang ans Bett gefesselt worden war, überfiel ihn um die Jahreswende 1897/98 eine heftige Lungenentzündung, die ihn an den Rand des Grabes brachte. Tagelang, ja wochenlang bangten die Seinen und mit ihnen die Gemeinde um das Leben des jungen Dieners Christi. Gegen alles menschliche Erwarten trat, als man schon mit den letzten Stunden gerechnet hatte, eine Wendung zum Bessern ein. Langsam aber stetig kehrten die Kräfte zurück, und als der Frühling ins Land kam, konnte der Kranke sein Leidenslager verlassen und mit seiner Mutter und Schwester in die Heimat zurückkehren, um neue Kräfte zu neuer Arbeit zu sammeln.

Hatte Frau Schopf seinerzeit, als es sich um die Wahl des Arbeitsfeldes im Ruhrkohlenrevier und speziell in Verbindung mit den ihr bisher völlig unbekannt gebliebenen Freien evangelischen Gemeinden handelte, nur mit schwerem Herzen ihre Zustimmung zu der Entscheidung des Sohnes gegeben, so hatte sie an dem Krankenbette desselben sich innerlich zu einer willigen und freudigen Uebereinstimmung mit diesem Wege hindurchgerungen. Dort hatte sie die tiefsten Wünsche ihres Herzens dem Herrn zum Opfer gebracht und ihre Bitten in die Worte des Hauptmanns von Kapernaum zusammengefaßt: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Sohn gesund.“ Und der Herr hatte das Flehen erhört und das eine Wort geredet. Nun sollte und mußte der Sohn das neugeschenkte Leben rückhaltlos in seines Meisters Dienst stellen. Darum gab dann auch die Mutter freudigen Herzens ihre Zustimmung, als der Sohn im Laufe des Jahres 1898 seinen Wohnsitz von Wattenscheid nach Witten verlegte und nunmehr noch mehr als bisher seine Gaben und Kräfte in den Dienst der Gesamtgemeinde Christi im Rahmen der Freien evangelischen Gemeinden stellte.

Zehn Jahre lang diente Schopf der Gemeinde Witten noch als Prediger, bis er im Jahre 1908 seinen Dienst an einer Einzelgemeinde aufgab, um dem Werk der Evangelisation seiner ganze Zeit und Kraft hinzugeben. Nun hatte er die Aufgabe gefunden, für die er in besonderer Weise von Gott begabt und berufen worden war. Wir können den einzelnen Zügen des reichen Lebenswerkes unsres Bruders nicht weiter nachgehen, das würde weit über den Rahmen dieser kurzen Skizze und über den hier verfügbaren Raum hinausgehen. Es möge genug sein, zu sagen, daß Gott ihm Türen und Herzen aufgetan und ihn, weit über die Grenzen der Freien evangelischen Gemeinden hinaus, einer sehr großen Zahl von Menschen, jungen und alten, gebildeten und ungebildeten, vornehmen und geringen, armen und reichen, zu bleibendem Segen gesetzt hat.

Wenn der Apostel an die hebräischen Christen schreibt: „Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach,“ so haben wir Ursache, diese apostolische Mahnung in Bezug auf Prediger O. Schopf zu beachten. Er war ein reich begabter Prediger des Evangeliums, der Tausenden mit Ernst und Liebe, mit Gebet und Flehen das Wort der Wahrheit bezeugt hat. Aber nicht nur mit Worten, sondern auch mit einem lauteren Wandel und mit Taten der Liebe in Beweisung des Geistes und der Kraft hat er das Evangelium bezeugt in seinem Leben und Leiden. Wir haben schon gesagt, daß er auch reichlich Gelegenheit gehabt hat, durch Leiden den Herrn zu preisen. Zwar hatte er in seiner Arbeit keine Verfolgungen von der Welt zu erdulden, auch hatte er nicht in besonderem Maße unter Verkennung und Mißachtung zu leiden – obschon es ihm auch daran nicht ganz gefehlt hat – aber dennoch war ihm ein reiches Maß des Leidens zugemessen von dem Herrn. Sehr oft hat er in dem letzten Jahr seines Lebens in Wort und Schrift das Verslein angeführt:

Unter Leiden prägt der Meister
In die Herzen, in die Geister
Sein allgeltend Bildnis ein.
Wie er dieses Leibes Töpfer,
Will er auch des künft’gen Schöpfer
Auf dem Weg der Leiden sein.

Die Wahrheit dieses Versleins hatte der Prediger Schopf in den besten Mannesjahren reichlich erfahren. Siebenmal hatte er innerhalb zwanzig Jahren an langwierigem, schmerzlichem Gelenkrheumatismus daniedergelegen. Dazu hatte ihn, wie wir oben sahen, einmal eine schwere Lungenentzündung an die Pforten des Todes gebracht. Aber aus dem allen hatte ihn der Herr errettet und ihm in all diesen Leiden nur immer reicher geoffenbart die Herrlichkeit der Gnade, und all die Schwachheiten, die in diesen Leiden offenbar wurden, in Ursachen der Kraft gewandelt. Diese herrliche, selige Tatsache, die er so oft in seinem Leben erfahren hatte, sollte sich auch bis an sein seliges Ende an ihm bewahrheiten.

Ende Dezember 1912 fuhr Prediger Schopf nach der Schweiz, um dort an einem Ort zu evangelisieren und dann an einem Bibelkursus in Bern zu dienen. Unterwegs zog er sich eine Erkältung zu, die ihn nötigte, in St. Ludwig, in dem Hause lieber Anverwandter, Rast zu machen. Wir lassen nun folgen, was der Herausgeber über den Heimgang seines Freundes in Nummer 6 und 7 des „Gärtners“ schrieb:

In der Neujahrsnacht hatte sich unser Freund die Losung gezogen: „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes gehen.“ Die Wahrheit dieses Wortes hatte er seit seiner Bekehrung reichlich erfahren. Hatte er doch noch vor Beendigung seiner Studien den hochgeschätzten Vater verloren, war er doch durch schwere Leiden wiederholt bis an die Pforten des Todes gekommen; mußte er endlich vor drei Jahren die heißgeliebte Mutter ziehen lassen; und wieviel Kampf und Leiden hatte seine Seele in der Arbeit zu bestehen! Wahrlich, er hatte schon mancherlei und viel Trübsal kennen gelernt, aber die Trübsal hatte ihn nicht weich machen können, wie ihn die Schwachheit nicht mutlos zu machen vermochte. Er hatte das paulinische Geheimnis kennen gelernt, welches in den Worten ausklingt: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Dieses Wort klang durch sein ganzes Leben hindurch. Wie oft sprach er es aus, weil ihn die Schwachheit zur Quelle der Kraft führen müsse. Auch in der letzten Nacht sprach der diesen Gedanken noch einmal mit großem Nachdruck aus. „Man braucht nur schwach zu sein, um die ganze Kraft Gottes zu nehmen, um zu den Quellen der Kraft gelangen zu können.“

Am Donnerstag abend, den 23. Januar, traf ein Telegramm ein, welches mich an das Krankenbett unseres Freundes rief. Da die Vorbereitungen für diese Reise für den folgenden Tag schon getroffen waren, konnte ich den Nachtzug benutzen und traf am Freitag, den 24. Januar, in St. Ludwig ein. Der Kranke empfing mich mit großer Freude, und wir konnten auf seinen Wunsch gleich einen Schriftabschnitt miteinander lesen und in gemeinsamem Gebet das Angesicht Gottes suchen. In den ersten Stunden unseres Zusammenseins gab er mir einen kurzen, klaren Bericht über sein leiden und sprach sich in großer Ruhe über seinen Zustand aus. Er hatte die Hoffnung, der Herr werde ihn nach innerer und äußerer Zerbrechung wieder aufrichten und ihn weiter gebrauchen in seinem Dienst. Nachdem er sich also über seinen Zustand und über seine Hoffnung ausgesprochen hatte, bat er, ich möge ihm sagen, welche Gründe ich hätte, eine Wiederaufrichtung hoffen zu dürfen. ich erwiderte ihm: Es sind zwei Gründe, die mich hoffen lassen, daß er Herr dich wieder aufrichten möchte: Das Gebet das Psalmisten: „Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!“ Und weiter die Tatsache, daß nach meiner Meinung das Werk, in dem du stehst, noch nicht so weit entwickelt ist, daß du hinweggenommen werden solltest.

„Das sind auch meine Gründe für meine Hoffnung“ – gab er mir dann zur Antwort – „andere Gründe für meine Wiederaufrichtung habe ich auch nicht, aber diese genügen mir auch. Wenn mich aber Gott wieder gesund machen will, dann muß vieles anders werden. Diese Hast muß aufhören. Ich glaube, ich muß mich zum richtigen Spießbürger entwickeln. Ich muß nicht überall dabei sein.“ Dann zählte er eine Reihe Ortschaften auf, die er in den ersten Monaten dieses Jahres hätte besuchen und wo er hätte dienen sollen und sagt dann: „Siehst du, die Sache geht auch, wenn ich nicht dabei bin. Der Herr macht keinen Fehler.“ Als ich im Lauf der Unterredung darauf hinwies, daß auch eine Gefahr darinnen liege, wenn man sich so in die Arbeit stürze und die Arbeit den ersten Platz in unserm Herzen einnehme, erwiderte er: „Ich bin von Natur zur Trägheit geneigt. In der Schule war ich sogar faul. Es ist gar nicht so, daß ich die Arbeit so über alles liebe, im Gegenteil, nur weil ich den Herrn liebe, liebe ich auch die Arbeit.“ Wir stellten dann fest, daß der Herr um jeden Preis den ersten Platz einnehmen müsse und solle, und daß unsere Arbeit für den Herrn erst in zweiter Linie stehe und wir darum auch bereit sein wollten sowohl zum Leiden als zum Dienst. Dann trug mir der liebe Freund die Sorge für seine Korrespondenz auf, nannte eine Anzahl Brüder, denen ich von dem Ernst seiner Krankheit Mitteilung machen und deren Fürbitte ich ihn empfehlen sollte.

Der Freitag ging so unter kurzen Unterredungen in brüderlicher Gemeinschaft dahin. Obwohl der liebe Kranke fortgesetzt eine Fieberhitze von 40 Grad und darüber hatte, war er völlig ruhig, hatte keine Schmerzen und keinen Durst. Er sagte im Laufe des Tages einmal zu mir: „Ich kann es dem Doktor gar nicht recht machen. Er meint absolut, ich müsse doch gewiß große Schmerzen und großen Durst haben, aber ich habe keines von beiden.“ Ja, der Herr hat seinem treuen Knecht die letzten Tage seines schweren Leidens leicht gemacht und ihn freundlich durch den Vorhof des Todes geführt. Er hatte es ihm auch in seiner Liebe verborgen, daß er schon so bald mit ihm aus diesem bösen Leben eilen wollte. Dadurch blieb unserm Bruder auch manche Sorge erspart, die ihn wohl hätte bedrücken mögen im Blick auf seine geliebte Schwester, die in Wetter krank darnieder lag, und seine Arbeit, sowie um so manches andere, was ihm auf der Seele lag.

Die lieben Baseler Freunde hatten veranlaßt, daß am Freitag abend ein Pfleger aus dem Spital kam, um die Nachtwache zu übernehmen, damit sein Sekretär, der seit 14 Tagen die Krankenpflege allein getan hatte, einmal ausruhen könne. Bruder Schopf freute sich darüber, daß also für die Nacht gesorgt sei, und meinte, ob wir nicht gleich auch für die Sonntagnacht den Pfleger bitten sollten. Wir baten ihn, sich darüber keine Sorge zu machen. Er bestand darauf, daß ich zur Ruhe gehen müsse, weil ich ja die Nacht vorher gereist habe und auch den Tag über nicht zur Ruhe gekommen sei. Ich war müde, doch nahm ich ihm das Versprechen ab, daß er mich rufen lassen wolle, wenn er meiner irgendwie bedürfen sollte. Er versprach es mir. Um 2½ Uhr ließ er mich rufen. Der Pfleger, für den er am Abend so dankbar war, war ihm persönlich fremd. Da sich nun die Fieberhitze noch gesteigert hatte, traten bei dem lieben Kranken Phantasien ein. Er konnte seine Gedanken nicht mehr kontrollieren und fühlte sich dem fremden Manne gegenüber beschwert, weil er fürchtete, seine Krankheit gereiche nicht zur Ehre des Herrn, wenn er so unverständige Sachen rede. Als ich an sein Bett trat, empfing er mich mit dem Worten: „Es ist schön, daß du kommst. Ich bin ganz leer, mein Gedächtnis verläßt mich, sage mir bitte ein Wort, daß ich wieder Halt bekomme.“ Ich rief ihm das Wort zu: „Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlaß dich nicht auf deinen Verstand.“ „Das ist schön, das ist gut. Ich brauche also gar nichts zu tun. Welch einen herrlichen Heiland haben wir doch. Man braucht nur schwach zu sein, um Kraft zu bekommen. Ach, und ich bin so schwach. Aber meine Schwachheit führt mich zu den Quellen der Kraft.“

Nun kam der liebe Kranke wieder zur Ruhe. Wiederholt sprach er noch seine Freude darüber aus, daß man nur schwach zu sein brauche, um Kraft zu bekommen. Der Friede Gottes, den er seit seiner Bekehrung so reichlich genießen durfte, erfüllte sein Herz auch in den schweren Leiden.

Am Morgen wurde ich wieder geweckt und zwar durch den Arzt, der mich bat, falls noch etwas zu ordnen wäre, dies noch heute gleich zu tun. Er glaube, die Entscheidung müsse am heutigen Tage kommen. Nun stand ich vor der schmerzlichen Aufgabe, meinen lieben Freund darauf aufmerksam machen zu müssen, daß es dem Herrn vielleicht gefallen würde, ihn heimzurufen. Er hatte, wie alle Tage vorher, so auch an diesem Samstag früh, trotz aller Fieberhitze von mehr als 41 Grad, noch mit gutem Appetit gegessen und war auch beim Beginn des Tages wieder ruhiger als in der Nacht. Nun versuchte ich an der Hand von Worten Gottes unsern Bruder aufmerksam zu machen, daß es mit ihm heimwärts gehen könne. Ich wies darauf hin, wie köstlich es für uns sei, daß wir uns mit all unserem Elend ganz auf den Herrn verlassen könnten, und daß wir ihm vertrauen dürften, auch wenn seine Wege ganz anders seien, als wir es gehofft hätten. Er schaute mich hierauf mit großen Augen an und fragte: „Warum redest du jetzt so zu mir?“ Ich erwiderte: „Nicht wahr, es ist unsre Seligkeit, daß der Wille Gottes in uns erfüllet werde, es gereiche nun zum Leben oder zum Tode.“ Seine sofortige Gegenfrage lautete: „Redet du das von dir selbst, oder hat der Doktor mit dir gesprochen?“ ich erwiderte: „Zunächst habe ich selbst den Eindruck im Blick auf die große Hitze, die du jetzt hast, daß es schlimmer mit dir geworden ist, dann allerdings hat mich der Arzt auch gebeten, dir zu sagen, daß deine Lage sehr ernst sei.“ Dann richtete er sich etwas auf und sagte mit kräftiger Stimme: „Dann soll also jetzt gestorben werden!“ „Das weiß ich nicht, das weiß der Herr allein,“ entgegnete ich, „wir wollen aber als Männer und Christen der Sache in die Augen sehen. Es gilt jedenfalls, vor dem Herrn darüber klar zu werden, was er mit dir vorhat.“

„Dann laß mich einmal ein wenig allein.“ Nun lag der teure Kranke eine Weile schweigend da. Nach etwa 6 – 10 Minuten sagte er: „So die Sache ist in Ordnung.“ Dann diktierte er in wenigen Minuten einen ausführlichen, inhaltreichen Brief an seine Schwester und endlich noch ein Telegramm, welches von seinem Heimgange als einer vollendeten Tatsache redete und erst nach dem Heimgange versandt werden sollte.

Nachdem der Sekretär das Zimmer verlassen hatte, um die letzten Aeußerungen unsres Freundes in Reinschrift zu bringen, sagte Br. Schopf zu mir: „Nun möchte ich mein Frühstück genießen.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Er, der eben mit dem Leben abgerechnet und seinen letzten Willen kundgetan, der in feierlicher Weise von seiner lieben Schwester Abschied genommen hatte, wollte des Leibes Bedürfnis zum letztenmal befriedigen, und er tat dies, als ob nichts Besonderes vorgefallen sei. So gab ich ihm denn zum letztenmal seine Milch, doch konnte er sie nicht alle genießen.

Nun folgten etwa 1½ Stunden wichtiger Besprechung verschiedener Fragen. Er gab Anweisung über seine Beerdigung und sprach über allerlei Fragen, die ihm noch auf dem Herzen lagen. Gegen halb zahn Uhr sagte er: Es wäre doch schön, wenn ich den Brief an mein Schwesterlein noch selber unterschreiben könnte.“ Ich erwiderte ihm: „Gewiß wird dir der Herr die Zeit noch geben.“ Inzwischen kam der liebe Hauswirt herauf, um die Tageslosung vorzulesen, was er jeden Morgen in der Zeit der Krankheit getan hatte. Die Losung lautete: „Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich“ (Psalm 126,3).

Dieses ist das Große – nicht zu überseh’n:
Aus des Vaters Schoße in den Tod zu geh’n
Für verlor’ne Sünder – O du höchstes Gut!
Daß sie Gottes Kinder würden durch dein Blut.

Unser Bruder hörte diese Worte noch mit Aufmerksamkeit und sprach aus, wie wichtig es sei, daß der Herr Großes getan habe. Immer wieder ist es der Herr, der es getan hat.

Um zehn Uhr kam der Bote und brachte den letzten Brief von der lieben Schwester aus Wetter. Wie er sich da freute! „Zünde ein Licht an, daß ich den Brief lesen kann,“ bat er mich. Als ich ihn dann darauf aufmerksam machte, daß die Sonne hell ins Zimmer schien, meinte er: „Dann ist das irdische Licht für mich am Entschwinden; lies du mir den Brief vor.“ Es war ein rechter Trostesbrief, den die schwer heimgesuchte Schwester ihrem mit dem Tode ringenden Bruder sandte. Wunderbar, daß sie dem Bruder dasselbe Bibelwort zurief, welches ich ihm in der Nacht als Trostwort zurufen durfte: „Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlaß dich nicht auf deinen Verstand.“ Er erinnerte sich des Wortes und sagte: „Wie merkwürdig! Es ist dasselbe Wort wie diese Nacht. Ja, der Herr ist gut!“

Nachdem der Brief und auch das Telegramm noch unterschrieben war, hatte unser Freund seine Aufgabe nach dem Rat und Willen Gottes auf Erden gelöst. Nun beschäftigte er sich nur noch mit dem bevorstehenden Durchgang durchs dunkle Tal. Verschiedene Aeußerungen, die er in den letzten Stunden tat, möchte ich hier noch zusammenstellen. Ob die Reihenfolge so ganz richtig ist, kann ich leider nicht mehr feststellen, doch die Worte sind so ausgesprochen worden. Als er über seine Beerdigung Bestimmung getroffen hatte, sprach er: „Man soll an meinem Grabe die Gnade rühmen.“ Nach einer Weile rief er mit lauter Stimme: „Preiset die Gnade, die mir so viel vergeben und mir so viel gegeben hat! Amen, Amen!“ – „Ich fühle, es wird ernst; ich war wiederholt nahe am Tode, aber ich bin noch keinmal gestorben.“ – „Ich habe keine Uebung im Sterben, aber er hat Uebung, seinen Kindern sterben zu helfen.“ – In einer früheren Nacht hatte er einmal ausgesprochen: „Im 23. Psalm beginnt der Psalmist: „Er weidet mich, Er führet mich zum frischen Wasser, Er erquicket meine Seele, Er führet mich auf rechter Straße. Da geht es immer per Er. Wenn es aber ins Tal der Todesschatten hineingeht, dann geht’s per Du, da heißt es: Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich; Du bereitest vor mir einen Tisch; Du schenkest mir voll ein. Da genügt es nicht mehr, daß man von einem Er spricht; da muß man jemand haben, der einen bei der Hand nimmt und festhält.“ Als es nun wirklich ins Todesschattental gehen sollte, da hat er den Psalm noch einmal im Herzen erwogen und gesagt: „Der Schatten zeugt vom Licht; wir gehen durch den Schatten.“

In der letzten Stunde hatte es unser Freund mit dem Herrn allein zu tun. Nachdem er nach seiner freundlichen Art Abschied genommen hatte von seinem treuen Jakobus, der ihm in den letzten zwei Jahren als Sekretär gedient hatte, und danach auch von dem Schreiber dieser Zeilen, da bat er, wir möchten ihn grade legen, er wolle gerne auch im Tode ordentlich sein, und dann wurden sie Sinne umflort. Wir standen dabei mit schmerzdurchglühtem Herzen und schauten, wie der Herr mit seinem treuen Knecht heimwärts eilte.

Der Jungfrauenverein, der den lieben Kranken wiederholt mit einem Lied erfreut hatte, sang in jener ernsten Stunde eine Etage tiefer das schöne Lied: Sicher in Jesu Armen. Ob er von dem Gesang noch etwas vernehmen konnte, weiß ich nicht, aber das weiß ich: als unten die letzte Strophe des dritten Verses verklungen war, tat unser Freund noch einen tiefen Atemzug und hauchte seine Seele aus in die Arme dessen, der mit ihm durchs dunkle Tal gegangen war.

Jesu, des Herzens Zuflucht, Jesu, du starbst für mich!
Sicher auf diesen Felsen stütz’ ich mich ewiglich.
Hier will ich stille warten, bis daß vergang’n die Nacht,
Bis an dem gold’nen Ufer leuchtend der Tag erwacht.

„Ein schlichtes Sterben, ein begehrenswertes Ende,“ nannte Pastor Geuger in „Licht und Leben“ den Heimgang unseres Freundes. Wir, der Leser und ich, wollen uns dem Begehren nach einem solchen Ende, einem seligen Ende, anschließen und Gott bitten:

Mein Gott, mein Gott! Ich bitt durch Christi Blut:
Mach’s nur mit meinem Ende gut.