Johann Chastellain

Luther’s Schriften waren schon in den ersten Jahren nach ihrer Erscheinung, durch den lebhaften Handelsverkehr und die Messen, über den Rhein nach Lothringen, dem Elsaß, und bis nach Lyon und anderen Gewerbsstädten Frankreichs gekommen, und begierig aufgenommen, heimlich vervielfältigt, und bald sogar in die Volkssprache übertragen worden. Seit die Kunde von Luther’s Heldenmuth zu Worms in alle Welt gedrungen war, stieg die um sich greifende Gährung immer höher. Auch in der Stadt Metz in Lothringen wurden alle Gemüther für oder wider die lutherische Sache eingenommen. Es verging kein Tag, keine Zusammenkunft von Geistlichen und Laien, ohne Verhandlung und Streit darüber; ja es wurde schon in demselben Sinne öffentlich gepredigt. Von den Kanzeln herab hörte man den bittersten Tadel gegen die Lehre der Kirche und das Leben der Geistlichkeit, und das Volk strömte schaarenweis solchen Predigern zu.

Einer der frömmsten und muthigsten unter diesen Zeugen der Wahrheit war Jean Chastellain (Johannes Castellanus), Mönch des Augustiner-Ordens, ein wohlgebildeter, großer und stattlicher, durch seine Leutseligkeit einnehmender Mann, der, ausgerüstet mit einer ungewöhnlichen Gabe, volksthümlich zu reden, Aller Herzen und Sinne sich zugewendet sah. Er scheint jedoch, für seine Person, nicht sowohl durch die Schriften Luther’s, als durch eigne Forschung auf denselben Weg der Wahrheit gekommen zu sein.

Im Jahre 1523 hatte Chastellain zu Vic, einem lothringischen Städtchen unweit Metz, die Adventspredigten gehalten. Zur Fastenzeit des folgenden Jahres 1524 trat er in dieser letzteren Stadt auf. In seinen eindringlichen Predigten, die er mit großer Beredsamkeit und unter wachsendem Zulauf in der Kirche des dortigen Augustinerklosters hielt, strafte er rücksichtslos die Sünden und Laster der Prälaten und Priester, insbesondre der Bettelmönche. Je mehr er sich dadurch in der Gunst des Adels und des Volkes festsetzte, desto heftiger entbrannte wider ihn der Haß und die Rachsucht der Geistlichkeit. Schon gegen Ende des Jahres 1523 hatte der Herzog Antonius von Lothringen ein Edikt erlassen, daß Niemand eine Schrift Luther’s besitzen, und daß, wenn ein Geistlicher heimlich oder öffentlich die lutherische Lehre vortrüge, er sofort gefangen und gebunden dem Inquisitionsrathe überliefert werden solle. Wahrscheinlich auf Grund dieses Edikts ward Chastellain eines Tages in den bischöflichen Pallast beschieden, wo ihn mehrere Aebte und Prälaten, unter anderen der Abt von St. Antonius von Viennois, und auch der Haushofmeister des Kardinals Johann von Lothringen, Martin Pinguet, Gouverneur der benachbarten Stadt Gorz, erwarteten. Man überhäufte ihn mit Vorwürfen wegen verschiedener, angeblich verleumderischen Aeußerungen und ketzerischen Behauptungen, die in seinen Predigten vorgekommen sein sollten, und nannte ihn geradezu einen abtrünnigen Lutheraner. Doch kam er, für dies Mal noch, mit solchen Vorhaltungen davon; nur daß seine kühnen Erwiederungen seine Feinde immer mehr gegen ihn aufbrachten. Natürlich ließ er sich dadurch in seiner Predigtweise nicht irre machen. Zu wiederholten Malen erklärte er öffentlich: keine Menschenfurcht, keine Todesgefahr könne ihn bestimmen, die Wahrheit zu verschweigen; fügte auch hinzu: wer, Geistlicher oder Laie, an seinen Reden etwas auszusetzen habe, der möge nur zu ihm kommen, er wolle ihn überzeugen und zufrieden stellen, anderen Falls aber sich jeglicher Strafe unterwerfen. Am nächstfolgenden Pfingstfeste sollte er, der damaligen Sitte gemäß, Nachmittags auf offener Straße vor der Heiligengeistkirche predigen. Da erging im Geheim der Befehl an den Pfarrer, dies um jeden Preis zu verhindern, und lieber statt Chastellain’s einen gewissen Jakobinermönch auftreten zu lassen. Doch erhielt ein in der Stadt viel vermögender Mann noch zeitig genug Nachricht davon. Dieser ließ, am Festtage selbst, als das Volk sich schon vor der Kirche versammelt hatte, durch einen Gerichtsdiener bekannt machen, jener Jakobiner sollte es nicht wagen, dem Befehl nachzukommen. So unterblieb die Predigt ganz. Dieser Vorfall machte aber wiederum gewaltiges Aussehen in der Stadt. Der Haß der Feinde konnte sich nicht länger mit halben Maßregeln begnügen.

Jetzt versuchte man, Chastellain aus der Stadt zu locken. Ein anderer Augustinermönch, Namens Bonnestraine, wurde für dreißig Sonnenthaler gewonnen. Dieser mußte ihm die falsche Nachricht bringen, der Provinzial seines Ordens wolle ihn sprechen, und harre seiner in der Nähe an einem bestimmten Orte. Chastellain ging in die Falle, und machte sich mit Bonnestraine und einem Novizen auf den Weg. Als er durch Gorz kam, wurde er dem Gouverneur Martin Pinguet verrathen. Dieser ließ ihm nachsetzen. Chastellain verbarg sich in dem Gehölz von Chamblé. Hier wurde er gefangen genommen und nach Gorz zurückgebracht. Es war am Himmelfahrtstage, den 5. Mai 1524. Zwei Tage darauf schleppte man ihn nach Nomeney, um ihn auf dem dortigen Schlosse in sicherem Gewahrsam zu halten. Vorher schon nahm der Magistrat von Metz, der ihn schätzte und liebte, sich seiner an. Am Himmelfahrtstage selbst sandte derselbe Söldner aus, um ihn zu befreien. Sie suchten ihn die ganze Nacht vergeblich. Am folgenden Tage, Freitag, ließ der Magistrat fünfzehn oder sechszehn Einwohner von Gorz an den Thoren der Stadt festnehmen, und hielt sie längere Zeit gefangen. Sie wurden wieder frei gegeben, nachdem der Abt von St. Antonius nach Metz gekommen war, und versprochen hatte, alles Mögliche zu thun, um Chastellain zu retten. Natürlich dachte er nicht daran, sein Versprechen zu halten. Da entbrannte die Wuth des Volks gegen ihn und Martin Pinguet. Wenig fehlte, so hätte man ihre Häuser zerstört, und, wären sie in Metz gewesen, sich thätlich an ihnen vergriffen. Um dieselbe Zeit hatte der berühmte Franziskanermönch Franz Lambert von Avignon, ein eifriger Anhänger Luther’s, auf seiner Rückkehr von Wittenberg, einige Wochen in Metz verweilt, und ein inniges Freundschaftsbündnis mit Chastellain geschlossen. Lambert, jetzt in Straßburg, schrieb Briefe über Briefe an den Magistrat und an den Herzog Antonius von Lothringen, um sich für seinen Freund zu verwenden. Er erbot sich sogar, selbst nach Metz zu kommen, wenn man ihm freies Geleit gäbe, und gegen alle Geistlichen und Mönche zu disputiren. Wollten die Gegner sich aber lieber nach Straßburg begeben, so werde er ihnen freies Geleit verschaffen. Könnten sie ihn dann eines Irrthums überführen, so wolle er sich mit seinen Büchern verbrennen lassen. Ueberführte er sie, so solle ihnen nichts geschehen. Würden sie aber Chastellain und seine Genossen zum Tode verurtheilen, so müsse er diese öffentlich für heilige Märtyrer erklären. Alles blieb fruchtlos. Der damalige Inquisitor Nikolaus Salvin, vom Dominikanerorden, zeigte sich am thätigsten in der Sache. Viele Zeugen wurden vernommen. Chastellain, mit seinem einfachen, ehrlichen und treuherzigen Wesen, konnte nicht durchdringen. Nach neunmonatlicher, harter Gefangenschaft, fällte man das Urtheil über ihn, er solle in der Stadt Vic öffentlich ausgestellt und seiner geistlichen Würde entkleidet, demnächst aber dem weltlichen Gericht übergeben, und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Dies Urtheil zu vollstrecken, wurde er von Nomeney nach Vic gebracht. Und kurz darauf am Donnerstag den 12. Januar 1525 erlitt er den Märtyrertod.

Um acht Uhr Morgens stand er am Pranger, eine gewaltige Volksmenge um ihn her. Dann wurde er ins Gefängniß zurückgeführt, wo er bis Nachmittag blieb. Als er abgeholt werden sollte, fand man ihn im Hemd und barfuß. So wollte er zum Tode gehn; „denn, sagte er, unser Herr Jesus Christus hat viel mehr für uns gelitten.“ Man ließ es nicht zu. Er mußte eine alte graue Jacke anziehn, und einen elenden deutschen Hut aufsetzen. Das Armesünderglöckchen ertönte. Chastellain, der fromme Prediger, der mächtige Volksredner ward in diesem Aufzug durch die Stadt zum Richtplatz geführt. Die Berichterstatter sagen: Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und seinen Mund nicht aufthut. (Jesaias 53, 7.) Von Zeit zu Zeit nur rief er: „ Gott helfe mir!“ Den Umstehenden brach das Herz; Alles weinte vor Rührung und Mitleid. Am Scheiterhaufen fing er an zu beten in lateinischer und in romanischer Sprache, sagte auch mit großer Andacht mehrere Psalmen her. Dann erhob er die Augen zum Himmel, und betheuerte laut, es sei lange sein heißester Wunsch gewesen, daß es so weit mit ihm kommen, und er für den Glauben, als Zeuge der Wahrheit den Tod erleiden möchte. Dann bat er das umstehende Volk um Verzeihung, wenn er etwas ihm Mißfälliges oder Unerbauliches sollte gepredigt haben. „Doch, fügte er hinzu, ich habe nichts gepredigt, was nicht schon der heilige Augustin und der heilige Ambrosius vor mir gepredigt haben. Habe ich also falsch gepredigt, so haben sie auch falsch gepredigt. Man hat mich einen Lutheraner, einen Luthergläubigen genannt. Aber auf meinen Tod und meinen Antheil am Paradiese will ich es nehmen, daß ich Luthern niemals gesehen. Von ihm und seiner Lehre habe ich nichts entlehnt. Darauf will ich sterben.“ Diese und andere Worte vermehrten das Weinen und Schluchzen. Man führte ihn an den Pfahl, wo er sich auf ein Brett setzen sollte. Er bat, man möchte ihn aufrecht stehen lassen; es werde ihm so noch viel zu gut gehen, der Heiland habe viel mehr für ihn gelitten. Dann half er dem Henker, ihn zurecht zu stellen. Sonst litt er Alles mit freudigem Muth und geduldiger Ergebung. Endlich hob er die gefalteten Hände hoch empor, und rief zu wiederholten Malen mit lauter Stimme: „Der Name Jesu sei mein Heil!“ So gab er seinen Geist auf und verschied.

Bestürzung, Entrüstung und tiefe Trauer verbreiteten sich in Vic, in Metz und allen umliegenden Ortschaften, wo man sich so oft an Chastellain’s herrlichen Predigten erbaut hatte. Als am folgenden Tage der Abt von St. Antonius nach Metz kam, wurde er von dem Volk mit der größten Verachtung behandelt. In der Nacht warf man ihm die Fenster ein. Am Sonnabend wollte er in der Hauptkirche die Messe hören. Man empfing ihn mit Schimpfreden. Die Einen nannten ihn Pilatus, die Andern Annas oder Kaiphas. Sein Leben war in Gefahr. Er mußte durch eine Hinterthür gerettet werden. Auch in seinem Hause konnte er nicht sicher bleiben. Volkshaufen sammelten sich vor demselben mit großem Geschrei. Man warf ihnen Brod und andere Eßwaaren aus den Fenstern zu. Vergebens. Sie wollten den Abt in Stücke zerreißen. Er entwich endlich mit großer Mühe nach Pont de Mousson zum Herzog. Jetzt wandte sich die Wuth des Pöbels gegen das Haus des Gouverneurs von Gorz. Dies wurde rein ausgeplündert, und bis auf die Mauern zerstört, alle Geräthschaften und Vorräthe vernichtet. Mehrere angesehene Männer bemühten sich, das Volk zu besänftigen. Es gelang ihnen nicht. Man zerstörte auf dieselbe Weise noch ein Haus, welches dem Gouverneur gehörte. Dann wandten sich die Haufen nach dem Gefängniß, wo ein zweiter Zeuge der Wahrheit in Haft gehalten wurde. Man mußte ihnen die Schlüssel ausliefern. Und Vedastus aus Lille, ein Freund und Genosse Chastellain’s, wurde in der That befreit, und dem muthmaßlich ebenfalls schon auf ihn harrenden Flammentode entrissen.

A. Fournier in Berlin.

Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862