Martin Chemnitz

Martin Chemnitz wurde am 9. Nov. 1522 dem Tuchmacher und Handelsmann Paul Chemnitz zu Treu-Briezen in der alten Mark Brandenburg geboren. Laurentius Barthold, damals Schulmeister, später Prediger des Ortes, entdeckte bald die grossen Anlagen des Knaben, „der immer mehr lernte, als ihm aufgegeben war.“ Leider trug sich, wie er später selbst erzählt, „ein sonderlicher Casus“ zu. „Ich war in des Grossvaters Hause gewesen, und musste über ein kleines Bächlein, so durch die Stadt fleusst, gehen. Ich versah es aber und fiel hinein, und wiewohl ich am Leibe keinen Schaden bekam, denn die Nachbarn retteten mich bald, so erfolgte doch aus dem Schrecken, dass ich hernach anfing gar sehr zu stammeln oder stottern, also, wenn ich etwas reden sollte, dass ich kein Wort nicht machen konnte und nicht vier Worte ungestammelt reden. Darüber die Mutter gar sehr betrübt und mit gemeldetem Schulmeister oft geredet, Solches würde zum Studiren nicht dienen. Nun war es ein wunderlich Ding, am Lesen hinderte mich der Unfall gar nicht, sondern ich konnte wohl ein ganz Blatt fertig ungestammelt hinweglesen, daher gemeldeter Schuldmeister gute Hoffnung gab, weil mir’s nicht wäre angeboren, es würde sich wohl ändern, wie auch Gottlob geschehen. Allein in pueritia währte das Stammeln wohl drei oder vier Jahre. Aus obgemeldetem Schrecken war auch das erfolgt, dass ich im Schlaf aufstand und ging; aber dasselbe ward bald gewendet.“ An den lauten Spielen der Knaben nahm Martin keinen Antheil. „Sie haben mich,“ sagt er, „oft damit vexiret, dass ich nicht hätte wollen mit andern Kindern auf den Gassen spielen, sondern wäre still für mich hin gewesen, hätte etwa in ein Winkelchen mich gesetzt und allein eigen Spiel gehabt, daneben gemelancholisiret und mit mir selber geredet.“

Martin verlor den Vater schon in seinem eilften Lebensjahre. Auf den dringenden Rath des Lehrers schickte ihn die Mutter, die ihn vor allen ihren Kindern liebte, drei Jahre später auf die Schule zu Wittenberg, wo sie Verwandte hatte. Martin hörte dort Luther predigen und machte in den Wissenschaften gute Fortschritte, musste aber schon nach einem halben Jahre auf Ersuchen der Verwandten, die ihn nicht mehr unterstützen konnten, nach Briezen zurückkehren. Hier suchte er den mangelhaften Schulunterricht dadurch zu ersetzen, dass er ohne Anleitung das Deutsche ins Lateinische übersetzte, worin er es zur Verwunderung seiner Lehrer sehr weit brachte. Barthold verliess 1538 seinen Schuldienst und gab seinem ausgezeichneten Schüler noch ein halbes Jahr lang Privatunterricht. Die Unvollkommenheit desselben erkennend, drang er fortwährend in Frau Chemnitz, ihren Sohn auf eine auswärtige Schule zu schicken. Aber der Bruder Matthäus, welcher nach des Vaters Tode dem Geschäfte vorstand, scheuete die Kosten, und Martin musste das Tuchmacherhandwerk erlernen. Durch die neue Thätigkeit unbefriedigt, übte sich der lernbegierige Jüngling in den Freistunden nach Anleitung einer lateinischen Stylistik fortwährend im Lateinschreiben, indem er sich bemühte, denselben Satz in dreifacher Form zu übertragen. Auch lag er fortwährend die verschiedensten Leute mit Bitten an, ihn wieder zum Schulbesuch zu verhelfen. „Aber da war immer die Antwort, es koste zu Viel, dass ich mich auch endlich der Schule fast begeben hätte. Da begab es sich aus sonderlicher Gottesschickung, dass anno 1539 Petrus Niemann, des Raths zu Magdeburg Secretarius, so mir Etwas verwandt, item Benedictus Köppen, damals Schöppenschreiber zu Magdeburg, hinüber kamen gen Briezen. Weil nun die Beiden mir Etwas mit Freundschaft verwandt, setzte ich mich nieder und schrieb an sie ein lateinisch epistolium, so gut ich’s von mir selber gelernt hatte, machte auch darunter ein Distichon nach der Prosodia, so ich gelesen hatte. Weil sie nun daraus spürten ein ingenium, das gern fortgewesen wäre, nahm sich sonderlich der fromme Mann Petrus Niemann meiner mit allen Treuen an, beredete die Mutter, es sollte nicht Viel kosten, er wollte mir einen freien Tisch zu Wege bringen und auch zu Büchern Förderung thun; – welches er mir auch mit allen Treuen geleistet hat. Denn demselben Petro Niemann habe ich’s nach Gott fürnehmlich zu danken, dass ich ad studia wiederum kommen. Also bin ich in die Schule zu Magdeburg kommen anno 1539 nach Michaelis, habe die ganze Zeit freie Tische gehabt bei ehrlichen Bürgern, als N. Grundeis und N. Zelle.“ (Chemnitz bei Rehtmeyer.) In Magdeburg trieb Chemnitz vorzüglich Lateinisch, Griechisch, Dialectik, Rhetorik, Astrologie und Metrik. Die Verse aber wollten ihm nicht von Innen fliessen, und er erkannte, dass ihm die poetische Ader fehlte, weshalb er auch, eingedenk der Vorschrift “tu nihil invita dices faciesve Minverva,“ zu dichten aufhörte.

Nach drittehalbjähriger Schulzeit war er reif zur Universität; aber aus Mangel an Geldmitteln übernahm er vorläufig, auf seines Rectors Wolfersdorp Empfehlung, eine Collaboratur an der Schule zu Calbe. Hier unterrichtete er von Johannis 1542 bis Ostern 1543 im Lateinischen und Griechischen mit grossem Erfolge und ging darauf mit dem erworbenen Geldvorrathe, den seine Mutter um ein Kleines vermehrte, auf die Universität zu Frankfurt a.O. Sein Verwandter Georg Sabinus, Melanchthon’s Schwiegersohn, war es, der dort durch gründliche und geschmackvolle Erklärung der römischen Redner und Dichter vorzugsweise auf ihn wirkte. „Wie aber“ – so erzählt Chemnitz – „mein Geldchen verzehrt war, musste ich abermal auf einen Dienst gedenken, und es trug sich zu, dass bei Frankfurt in einem Städtlein, Wriezen an der Oder, da ein grosser Fischhandel ist, der Schulmeister abzog. Denselben Dienst bekam ich 1544 und war daselbst anderthalb Jahr. In der Zeit kaufte ich mir viele Autoren und studirte sie fleissig. Nun war das ein ziemlicher Dienst; denn es war dabei annectirt die Schreiberei im Fischzoll, und wurden mir vorgeschlagen Mittel und Wege, dass ich da wohl hätte bleiben könne, und mein Bruder rieth sehr dazu. Aber meine Gedanken standen immer noch ferner. Derwegen, weil ich etlich Geld bei dem Dienst colligiret hatte, habe ich mich gen Wittenberg begeben anno 1545.

Melanchthon, durch Sabinus mit Chemnitz verwandt und durch die Uebersetzung einer Demosthenischen Rede, welche ihm letzterer überreichte, für ihn günstig gestimmt, nahm ihn in seinen väterlichen Schutz. Er ermunterte ihn auch zum Studium der Mathematik, und Chemnitz hörte eifrig Reinhold’s Vorlesungen über den Euklid, noch begieriger aber trieb er unter Anleitung desselben Gelehrten Astrologie. Ganz in diese Studien versunken, brachte er sich, was er nachher bereuete, um den vollen Genuss Luther’s. Doch hörte er ihn predigen, lesen und disputiren. Der Schmalkaldische Krieg veranlasste ihn, Wittenberg zu verlassen und nach Königsberg zu ziehen, wo kurz vorher Sabinus Anstellung gefunden hatte. „Und zu der Reise“ – so erzählt er – „hat mir die Mutter mitgegeben zwanzig Thaler, welches das Meiste ist, so mir auf ein Mal von den Meinen vorgestrecket, und waren doch nicht gar willig dazu. Anno 1547, den 18. Mai, bin ich zu Königsberg in Preussen ankommen. Und hat mir D. Sabinus zugeweiset in disciplinam etliche junge polnische Herren und Edelleute, davon ich etwas zur Steuer gehabt.“ Die Astrologie blieb auch in Königsberg sein Lieblingsstudium. Am 31. Mai 1548 wurde er Rector der Domschule zu Königsberg „im Kniphofe“ und am 27. Sept. desselben Jahres auf Kosten des Herzogs von Preussen zum Magister promovirt. Eigene Neigung und der Wunsch seines Landesfürsten veranlassten ihn zur Herausgabe zweier astrologischer Kalender auf die Jahre 1549 und 1550. Doch beschlich ihn dann und wann eine Ahnung von der Unsicherheit der Astrologie und von der fest gegründeten Herrlichkeit der Theologie. Als er 1549 mit Sabinus nach Wittenberg gereiset war, schrieb er dort einen griechischen Brief an Melanchthon mit der Bitte, ihn über das theologische Studium zu berathen. Melanchthon erwiderte unter Anderm, die Beobachtung des Unterschiedes zwischen Gesetz und Evangelium sei das vorzüglichste Licht und die beste Methode in der heiligen Wissenschaft. Bald nach Chemnitz’s Rückkehr brach in Königsberg die Pest aus. Er zog desshalb mit Sabinus in das Städtchen Salfeld und las dort mit grossem Eifer die Sentenzen Petrus des Lombarden und die Postillen Luther’s. In letzteren achtete er genau auf die Definitionen, Eintheilungen, Begründungen, Ausdrucksweisen, Bilder und Uebergänge. 1550 kehrte er nach Königsberg zurück, und der Herzog, der ihm wegen des Kalenders sehr geneigt war, ernannte ihn zum Bibliothekar der fürstlichen Bibliothek. „Das halte ich“ – erklärt Ch. – „für das grösste Glück, das mir Gott zur Zeit meines Studirens gegeben hat.“ Es war der reiche Bücherschatz, der ihn so glücklich machte. Mit unersättlicher Lernbegierde vergrub er sich in die Bibliothek. Zuerst las er die Bibel mit den dort vorhandenen Uebersetzungen und Auslegungen, sodann die Bücher der Väter und zuletzt die Streitschriften gegen die Ketzer seiner Zeit, immer mit der Feder in der Hand. „Diese schöne, gute Gelegenheit“ – sagt er – „habe ich drei ganzer Jahre fleissig gebraucht, und habe daneben damals die allerbesten Herrentage gehabt. Denn vom Herzoge hatte ich Tisch, Wohnung, Holz, Licht, Kleidung und eines famuli Unterhaltung. Beim Herrn Burggrafen, auf dessen Kinder ich Aufsehen hatte, war mein Tisch herrlich, da assen Kanzler, Marschall und die vornehmsten Räthe; bei denen hatte ich grosse Gunst, kriegte Geschenke, hatte nirgends mit zu thun, sondern studirte mit Lust. Und wäre in Preussen wohl geblieben, wenn nicht Osiander da die Kirchen turbiret hätte.“ Ch. trat in einer öffentlichen Disputation gegen Osiander auf und setzte ihm mit bündigen Gegengründen siegreich zu. Die dadurch erbitterten Osiandristen suchten ihn bei dem Herzoge in Ungnade zu bringen; aber dessen grosse Vorliebe für die Astrologie schützte ihn. Weil er jedoch die beschwerliche Vorherrschaft des Osiandrismus, die er nicht zu brechen vermochte, nicht mehr ertragen konnte, nahm er seinen Abschied und ging mit reichen Geldgeschenken von Herzog Albrecht und vom Markgrafen Joachim von Brandenburg, den er in Küstrin besuchte und mit astrologischen Berechnungen bediente, nach Wittenberg. Sobald er, am 29. April 1553, hier angekommen war, wurde er Melanchthon’s Tischgenoss und eifriger Schüler. Schon im Anfange des folgenden Jahres trat er als lehrendes Mitglied in die philosophische Facultät ein und empfing das Amt eines Examinators Behufs der Magisterpromotionen. Am 17. Mai zog er mit Melanchthon auf den Convent zu Naumburg. Auf der Reise that jener einen Blick in die tiefen patristischen Kenntnisse seines Begleiters und forderte ihn sofort zu theologischen Vorlesungen auf. Ch. gehorchte und eröffnete sie, auf Melanchthon’s Wunsch, mit Vorträgen über dessen loci communes. Melanchthon, welcher der ersten Vorlesung selbst beiwohnte, musste bei dem ungewöhnlich starken Andrange, den Zuhörern ein anderes Auditorium anweisen, welches bis zur letzten Vorlesung gefüllt blieb. Diese erfolge, zur grossen Betrübniss der Wittenberger, schon am 20. October 1554; denn Ch. hatte auf Mörlin’s Veranstaltung einen Ruf zum Coadjutor nach Braunschweig angenommen. Die günstigsten Anerbietungen waren nicht im Stande gewesen, ihn zu halten; „denn“ – so sagt er, „Gott inclinirte mir das Herz gar auf Braunschweig.“ Am 25. November wurde er von Bugenhagen ordinirt, und am 4. December gelangte er in Braunschweig an. Hier übte er in Gemeinschaft mit dem berühmten Superintendenten Mörlin sofort eine segenvolle Wirksamkeit. Schon im April 1555 begann er seine Vorlesungen über Melanchthon’s loci communes. Johannes Zanger, Pastor zu St. Petri, schrieb sie eifrig nach und übergab sie ihm zur Revision. Weil diese aber zu beschwerlich wurde, arbeitete er sie selbst aus. Erst 1591 gab sie Polykarpus Leyser in Druck. Seit 1556 leitete Chemnitz zum Besten der städtischen Theologen auch halbjährliche öffentliche Disputationen, „welches dem Superintendenten D. Mörlino so wohl gefallen, dass er in der ersten Disputation seine Freude mit Thränen darüber öffentlich bezeuget und Gott gedanket, dass er ihn den Tag erleben lassen, da die Gewohnheit, so sonst allein auf die Akademie gehörte, auch in dieser Stadt und Kirche eingeführet wäre.“ Mörlin wurde 1567 zum samländischen Bischofe nach Königsberg berufen, und Chemnitz, der bereits zahlreiche Vocationen ausgeschlagen, war sehr geneigt, ihm als Pfarrer dorthin zu folgen; „denn er wollte sich von ihm nicht gern trennen lassen, weil sie ein Paar Herzensfreunde waren, als etwa Lutherus und Melanchthon im Anfang gewesen.“ Doch auf anhaltende Bitten des Rathes, der ihm zu bedenken gab, „dass er Gottes Willen nicht länger widerstreben möchte,“ entschloss er sich, unter Vorbehalt des freien Strafamtes der Geistlichkeit, die Braunschweigische Stadtsuperintendentur zu übernehmen. Seine Auctorität zu verstärken, sandte ihn die Stadt auf ihre Kosten zur theologischen Doctorpromotion nach Rostock. „Ob nun zwar Chemnitius unter guten Freunden bezeuget, dass er die Doctorwürde nicht sonderlich gesucht, so hat er doch Solches wollen geschehen lassen, damit er desto freimüthiger von der Wahrheit zeugen und schreiben könnte, weil den creirten Doctoribus öffentlich anbefohlen würde, die christliche Lehre zu erweitern.“ (Rehtmeyer.) Seine am 28. Juni zu Rostock gehaltene Disputation von der Person und dem Amte Christi erregte Verwunderung und trug zugleich der Stadt Braunschweig grosse Ehre ein. Mit Würde und Entschiedenheit erfüllte Ch. seinen oberhirtlichen Beruf. Trotz mancherlei, selbst im Rathe, versuchten Widerspruches behauptete und übte er die gesetzlich zugestandene Kirchenzucht gegen öffentliche Sünder. So mussten die Todtschläger und Ehebrecher nach ihrer Aussöhnung mit der Obrigkeit vor dem Colloquium in Gegenwart der Kastenherren erscheinen und dort die Versöhnung mit der christlichen Kirche begehren. Kein noch so starkes Geschrei von Wiederaufrichtung des päpstlichen Bannes vermochte ihn zu hindern, diese heilsame Zucht durchzusetzen. Auch wurde auf seine Veranlassung von den Kanzeln abgekündigt, „dass die Jungfern und Frauen, wenn sie zum heil. Abendmahle gehen, sich nicht sollten mit Gold, Silber, Demanten und Perlen zieren, sondern, ihre wahre Busse und Demuth an den Tag zu legen, im schwarzen oder weissen Habit, wie bei der Leiche üblich wäre, einhergehen und ihres Seelenschmuckes desto mehr wahr nehmen.“ Ausnahmlos kam man dieser Verfügung nach. Mit mehr Schwierigkeiten wurde 1570 eine strenge Copulationsordnung durchgeführt, „wozu denn im folgenden Jahre ein gemeiner Schluss von den Copulationen der geschändeten Jungfrauen gemacht wurde, dass solche nicht im Hause, wie wohl geschehen, sollten copuliret werden, auch nicht in Kranz- und Haarbinden, sondern unter einem Tuch- und Regenlaken nach der Kirche gehen und allda im Beisein etlicher weniger Personen sich in der Stille trauen lassen, damit solcher Bosheit dadurch gewehret würde.“ Auch veranlasste Chemnitz die Einrichtung von Sing-Currenden und zur Steuer des unbefugten Bettels die Anstellung von Bettelvögten. Immer mehr erkannten die Braunschweiger die Wahrheit des Wortes, welches Mörlin von Königsberg (am 8. Juli 1568) an den Magistrat schrieb: „E. E. lassen Ihnen ja den kleinen, aber grossen Mann, meinen liebsten Freund und Gevatter, Doctor Chemnitium, treulich empfohlen sein, und zweifele nicht, sie habe an ihm und dem ganzen Colloquio den höchsten Schatz, so Euch Gott geben kann.“

Aber nicht bloss die Stadt Braunschweig, sondern das ganze Land und das Ausland genossen früh die Früchte seiner tief eingehenden Thätigkeit. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritte beschied ihn Herzog Julius nach Wolfenbüttel, um mit ihm, Andreä und Ulmer über die Durchführung der Reformation in seinen Landen Rath zu halten. Nach einer durch jene drei Theologen vollzogenen Kirchenvisitation wurden sämmtliche Prediger nach Wolfenbüttel berufen, um von Chemnitz und Andreä geprüft zu werden. Die bei dieser Gelegenheit gemachten traurigen Erfahrungen veranlassten Chemnitz, sein Handbüchlein der christl. Lehre in Frage und Antwort zu schreiben. 1569 erschien auf fürstlichen Befehl die von ihm und Andreä ausgearbeitete Kirchenordnung, deren Einleitung unter dem Titel “Declaratio, oder kurzer, einfältiger und nothwendiger Bericht von etlichen fürnehmen Artikeln der Lehre, wie dieselbigen mit gebührlicher Bescheidenheit und Erbauung fürgetragen und wider alle Verfälschung verwahret werden mögen,“ von Chemnitz allein ausgearbeitet ist. Nachdem Selneccer später den Herzog von der Zweckmässigkeit eines vollständigen Abdrucks der in jener Kirchenordnung nur citirten Bekenntnissschriften überzeugt hatte, wurde hier auf fürstlichen Befehl von Chemnitz das im braunschweigischen lande noch jetzt verbindliche Corpus doctrinae Julium besorgt und 1576 herausgegeben. Es enthält ausser der genannten Declaratio noch eine ganz andere, das ganze Werk beschliessende Schrift von Chemnitz, betitelt: Wohlgegründeter Bericht von den fürnehmsten Artikeln christlicher Lehr, so zu unseren Zeiten streitig geworden sind etc.

In vorzüglichem Grade nahm der Herzog die Thätigkeit des gelehrten Chemnitz für die Gründung der Julia Carolina in Helmstädt, „mit der er“ – wie er sagte – „des Abends zur Ruhe ging und des Morgens vom Lager sich erhob,“ in Anspruch. Unter den Männern, welche im Kloster Riddagshausen die Universitätsstatuten ausarbeiteten, nahm Chemnitz die erste Stelle ein, und am 15. Oct. 1576 hielt er die Einweihungspredigt über Luc. 6.12.13. Sie hat folgendes Thema: Nachfolgende Hauptpunkte sollen näher, so viel die Zeit leiden und dieses fürstehenden Werkes Gelegenheit erheischen will, kürzlich behandelt werden: Erstlich, wie alle Weg in den christlichen Kirchen von Anfang neben wohl bestellten Kirchen auch wohlgeordnete Schulen gewesen und gehalten sind worden, als im alten und auch im neuen Testamente von Christo selbst und hernach von den Aposteln, darnach auch zur Zeit der lieben Väter, die man Patres nennt, item von Stifts- und Klosterschulen, und wie an derselben Statt endlich in Deutschland die hohen Schulen aufkommen. Zum Andern wollen wir auch Etwas davon melden, wie der leidige Satan zu allen Zeiten den Schulen feind gewesen, und wie die Kirche Gottes durch fleissig Aufsehn und durch christliche, gottselige Mittel und Wege die Schule wiederum in recht gottseligen Stand und Gebrauch gebracht hat. Zum Dritten wollen wir sonderlich darauf Acht geben, aus was Ursachen der Sohn Gottes, da er seine apostolische Schule anrichten will, so fleissig zuvor betet und vom Gebet seine Schule anhebet, also und mit solchem Ernst, dass er die ganze Nacht im Gebet verharret. Zum Vierten wollen wir diese ganze Lehre ziehen, richten und appliciren auf dies jetze vorstehende Werk der Aufrichtung, Einführung und Bestätigung Unser hohen Juliusschule zu Helmstädt.

Von der grössten Bedeutung ist Ch.’s Antheil an der Abfassung der Concordienformel: Schon die erste Grundlage derselben, die schwäbische Confession, war von ihm zur schwäbisch-sächsischen Concordie ausgestaltet (1575). Das aus derselben grossentheils hervorgegangene Torgauische Buch war zumeist gleichfalls seine Arbeit (1576), und in Kloster Bergen, wo 1577 die Concordienformel vollendet wurde, gehörte er zu den einflussreichsten Redactoren. Noch in demselben Jahre erfolgte von Seiten des Herzogs Julius und der braunschweigischen Geistlichkeit die Unterschrift. Und dennoch scheiterte ihre Einführung. Heinrich Julius, des Herzogs Sohn, war schon als zweijähriges Kind von dem Domcapitel zu Halberstadt zum Bischofe gewählt; doch hatte sich dasselbe auf zwölf Jahre die Aufnahme der Einkünfte ausbedungen. Zum allgemeinen Ärgerniss der evangelischen Fürsten und Theologen liess der Herzog nach Ablauf der zwölf Jahre am 5. Decbr. 1578 den Prinzen vom Abte zu Huyseburg nach katholischem Ritus zum Bischofe weihen und zugleich den jüngeren Prinzen Philipp Sigismund und Joachim Karl die Tonsur ertheilen. Frei und entschieden rügte Chemnitz diesen Schritt seines Landesfürsten in einem an ihn geschriebenen Briefe, und als am 1. Advent sämmtliche Prediger der Stadt sich gegen das anti-evangelische Verfahren öffentlich Luft gemacht hatten, nahm er sie in einer besonderen Schrift in Schutz. Sofort wurde er als herzoglicher Consistorialrath entlassen, und unterliess deshalb, von dem Convente zu Jüterbock (1579), wohin er in Angelegenheiten der Concordienformel eingeladen war, an Julius zu berichten. Dieser, von den concordienfreundlichen Fürsten und Theologen eines Theils bitter getadelt, andern Theils bei den Eintrachtsverhandlungen ebenso bitter übergangen, zog sich von dem ganzen Unternehmen verstimmt zurück, und während er noch am 1. Julius 1578 an Chemnitz geschrieben hatte: „Es biege oder breche, es warne, falle oder erkalte von Chur- und Fürsten, wie es wolle wegen der Formulae concordiae, so kann ich mich doch Nichts dafür grausen lassen, denn Gott ist mächtig genug, sein Selbstwerk zu handhaben, das beständig fortzusetzen, bei denen er Solches gönnen will, zu behalten;“ so sprach er jetzt von Schulwörtern, um die er nicht mehr zanken wolle. Seine Theologen zu Helmstädt kamen ihm zu Hilfe, indem sie die zu Dresden 1580 gedruckte Concordie mit der unterschriebenen Ausgabe von 1577 in Widerspruch fanden, und so geschah es, dass im braunschweigischen Lande die Verpflichtung auf die Concordienformel einging, jedoch mit Ausnehme der Stadt Braunschweig, wo sie bis zur Eroberung derselben durch den Herzog Rudolph August, u.J. 1671, in Kraft blieb.

Chemnitz blieb ungeachtet der zahlreichen ehrenvollen Vocationen, die durch seine bei verschiedenen und zwar immer in den schwierigsten Fällen von dem Auslande in Anspruch genommene Thätigkeit veranlasst waren, bis an sein Lebensende in Braunschweig. Bedeutende Abnahme der Körperkraft und des Gedächtnisses nöthigte ihn, 1584 sein Amt niederzulegen. „Es nahm aber“ – so berichtet Rethmeyer – „die Krankheit des schwachen Chemnitii im Jahre 1586 in der Fastenzeit dergestalt zu, dass er seinen längst gewünschten Abschied aus dieser Zeitlichkeit vermuthete. Desswegen liess er seinen Beichtvater holen und empfing von ihm nach gethaner Beichte die Absolution und Tags darauf das heilige Abendmahl, dabei er mit dem alten Tobia (Cap. 3, V. 6.) seufzte: Ach Herr, erzeige mir Gnade und nimm meinen Geist weg in Frieden; denn ich will lieber todt sein, denn leben. am Donnerstage nach Ostern kam ihn ein Fieberfrost an, weshalb man ihn auf das Siechbette brachte, wo er die Nacht über sehr gefährlich darnieder lag. Des Morgens darauf wurden um 5 Uhr M. Joh. Lossius, Pastor zu St. Martin, und Joh. Gasmerus, Pastor zu St. Catharinen, zu ihm gefordert, welche ihn Eins um’s Andere den ganzen Tag über aus dem Worte Gottes, insonderheit aus denjenigen Psalmen und Schriftstellen, die er am meisten zu gebrauchen pflegte, trösteten, da er denn fleissig zuhörte, und, was er nicht mitreden konnte, mit Winken zu verstehen gab. Wobei Gasmerus bezeuget, dass sie die ganze Zeit über keine Anfechtung und empfindliche Schmerzen oder Zeichen einiger Ungeduld an ihm gespüret, sondern so ruhig gewesen sei, dass er fast keine Hand oder Finger gereget. Gegen Abend zeigten sich einige Merkmale des Todes an ihm, da sie denn desto mehr mit Beten anhielten und ihn seines Heilandes erinnerten. Darauf er um 12 Uhr des Nachts, den 8. April 1586, unter ihrem Gebete und Zurufen der Seinigen, gar sanft in dem Herrn entschlief, seines Alters 64 und Amtes 32 Jahr.“ Ueber seinen theuersten Spruch „ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir,“ hielt ihm der Coadjutor Joh. Zanger die Gedächtnispredigt, als man ihn am 10. April im Chor der St. Martinus-Kirche begrub. Ch.’s Gattinn Anna, des Rechtsanwaltes Hermann Jeger’s Tochter, mit der er sich 1555 verheirathet hatte, starb erst i.J. 1603. Von seinen drei Söhnen ist besonders Martin bedeutend. Anfangs Rath zu Braunschweig, wurde er später Professor der Rechte zu Rostock und starb als Canzler zu Schleswig 1627. Mit dem Erbe der Frömmigkeit gesegnet, vertiefte er sich gern in Balduin’s und Meisner’s Meditationen und las Sonntags vor dem öffentlichen Gottesdienste die Evangelienharmonie seines Vaters.

Des alten Chemnitz Predigten gehören zu den gehaltreichsten ihrer Zeit. Mörlin rühmte von ihnen, dass sie nicht Worte allein, sondern immer eitel res seien, und trieb die jungen Prediger und Schullehrer eifrig an, sie zu hören und nachzuahmen. Bei dem grossen Schatze gründlicher Gottesgelehrsamkeit, den sie darbieten, sind sie durchaus populär. Die Methode ist in der Regel die, dass aus dem Texte verschiedene Lehrstücke gezogen und ohne Thema nach einander behandelt werden. Die meisten Predigten sind sehr lang, was sich in Bezug auf die Postille daraus erklärt, dass Neukirch aus vielen Predigten eine gemacht hat.

Ch.’s bedeutendste Schrift ist sein examen concilii Tridentini quadripartitum, in quo praecpruorum capitum totius doctrinae papisticae firma et solida refutatio est collecta. 4 Tomi (1565-1573). Francf. 1574 in 8. Dieses Werk wurde durch die gegen seine Schrift theologiae Jesuitarum praecipua capita, Lips. 1562. 8. erschienen Repliken veranlasst und trug ihm den begründeten Ruf des grössten Theologen der lutherischen Kirche nach Luther und Melanchthon ein. Es fand seinen Bewunderer selbst unter den Katholiken und brachte nicht wenige von ihnen zur Erkenntniss. Einst fragte – so erzählt Rhetmeyer nach Gasmerus – ein Cardinal zu Trident den Lüneburgischen Gesandten Joachim Götzen nach dem grössten Theologen in Deutschland. „Als nun D. Götzen etliche erzählet, habe er geantwortet, es wäre einer unter ihnen, Martinus Chemnitius genannt, ein Lehrer der Kirche zu Braunschweig, welchen er für den vornehmsten unter den deutschen Theologen hielte. Er hätte das sehen, dass viele schreckliche Irrthümer durch die Nachlässigkeit der Bischöfe in die Kirche eingeschlichen wären. Sonst sei Niemand unter den deutschen Theologis nach Lutheri Tode gewesen, welcher der römischen Kirche mehr geschadet, als Chemnitius mit seiner Schrift, und müsste er bekennen, er hielte den Mann sehr hoch und wünsche Nichts mehr, als dass er sich einmal mit ihm unterreden möchte.“ Ausserdem schrieb Ch. u.A.: Christliches Bedenken auf Doctor Majors Repetition. Eisleben 1568. 8. Die fürnehmsten Hauptstücke der christl. Lehre, wie darin die Pastores examiniret und unterwiesen werden. Wolfenb. 1569. 8. Auch unter dem Titel: Handbüchlein der fürnehmsten Hauptstücke der christlichen Lehre. Heinrichsstadt 1574. 8. Corpus doctrinae Prutenicum. Eisleben 1568. 8. Kirchenordnung, wie es mit Lehr und Ceremonien des Fürstenthums Braunschweig, Wolfenbüttelschen Theils, gehalten werden soll. Wolfenb. 1569. 4. De duabus naturis in Christo. Jenae. 1570. 8. Corpus doctrinae (Julium), d.i. die Summa, Form und Fürbild der reinen christl. Lehre. Wolfenb. 1576. fol. Loci theologici, quibus Philippi Melanchthonis loci communes explicantur, cura Polycarpi Lyseri. Francof. 1593. 4. Harmonia evangelica, a Polycarpo Lysero edita. Francof. 1593. 4. Postilla oder Auslegung der Evangelien etc., durch Melchior Neukirch, Pastor zu St. Peter in Braunschweig, publiciret. Magdeb. 1594. 2 Thle in Fol. (Mit Vorrede von D. Polycarp Leyser). Verschiedene einzelne Predigten, darunter: Eine Predigt bei der Einführung der Julius-Universität zu Helmstädt, 1576. Helmst. 1579. 4.

S. Gasmeri oratio de vita et obitu Martini Chemnitii. Braunschw. 1588. 4. Rehtmeyer, Kirchenhistorie der Stadt Braunschweig. Th. 3. S. 213 ff. Lentz, de causis non receptae in terris Brunsvicensibus formulae concordiae. Brunsvigae 1837. 4. Derselbe: Die Concordienformel im Herzogthum Braunschweig, in Niedner’s Zeitschrift für d. histor. Theol. 1848. H. 2. S. 265. Derselbe: Martin Chemnitz. Braunschw. Magazin 1853. Stück 11. 13. und 1854. Stück 8. 9. 10. Vgl. Henke, Georg Calixt, Halle 1853, Bd. 1. S. 12. ff.

Die bedeutendsten Kanzelredner der lutherschen Kirche des Reformationszeitalters, in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten dargestellt von Wilhelm Beste, Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 185